Politikus

An der Utopie arbeiten

Viele Studierende und Auszubildende können sich die Mieten in München nicht mehr leisten. Wie kann abseits der gewohnten Pfade günstiges Wohnen ermöglicht und München eine Stadt für alle werden? Ein Text über die Suche nach Lösungsansätzen, in und außerhalb der Isarstadt.

Planungstreffen einer Projektgruppe, Fotograf: Johannes Roßnagel

Von Pauline May

Hausbesetzungen, Berlin in den 90er Jahren, Claudia Roth war noch Punk, Ton Steine Scherben singt über den Mariannenplatz – daran werden wohl die meisten Menschen beim Stichwort Selbstverwaltung denken. Seltener werden sie den Begriff wohl mit einem Wohnheim am Rande Heidelbergs und bildungsbürgerlich wirkendem lateinischem Namen assoziieren. Doch auch wenn man es auf den ersten Blick nicht vermuten würde: In Heidelberg ist das Collegium Academicum, von den Bewohner*innen meist abgekürzt zu CA, schon lange als Hochburg des selbstverwalteten Wohnens bekannt. (Geschichte des alten CA – Collegium Academicum)

Mich irritiert der Name des Projekts ein wenig: Collegium Academicum, akademisches Kolleg. „Wollt ihr dann nur Akademiker*innen in eurem Wohnheim haben?“, frage ich Myriam Thüringer, Biochemiestudentin und Bewohnerin des CA. „Im Gegenteil, den Namen haben wir aufgrund seiner Geschichte“, meint sie und erzählt, sie habe vor ihrem Studium selbst eine Ausbildung zur Fotografin gemacht. „Deswegen freue ich mich zu sehen, dass wir einen großen Anteil an Azubis haben, die hier wohnen, weil ich es auch selbst erfahren habe, wie schwer es ist, bezahlbaren Wohnraum zu finden.“ Aktuell liegt der Anteil der Auszubildenden im CA bei rund 10 Prozent, 80 Prozent der Bewohner*innen sind Studierende, 5 Prozent promovieren.

Selbstverwaltet, das bedeutet: Die Bewohner*innen machen alles selbst, was man so selbst machen kann. Lukas Hesche, 24, Sonderpädagogikstudent, erzählt: „Du hast keinen Träger, der für alles verantwortlich ist, wenn im Zimmer irgendwas nicht funktioniert.“ Dementsprechend finde Bildung in fast allem statt, was im Projekt getan werde, „sei es in der Öffentlichkeitsarbeit, im Plenum zu diskutieren oder ganz praktisch am Wochenende irgendwelche Wände hochzuziehen oder den Garten im CA zu gestalten.“

Konflikte diskutieren die Bewohner*innen gemeinsam in großer Runde. Auch Entscheidungen werden dort mithilfe eines Stufensystems getroffen. „Die Idee von Konsens ist, dass es nicht gegebenenfalls eine große Gruppe gibt, die unzufrieden mit der Entscheidung ist. Wir wollen immer eine Entscheidung finden, mit der alle gut leben können“, erklärt Lukas. Gibt es ein Veto gegen einen Vorschlag, ist dieser vom Tisch, äußert jemand Bedenken, wird der Vorschlag nochmals diskutiert.

Ich frage mich: Ist das nicht sehr anstrengend, diese Basisdemokratie?

Im CA wirken alle sehr aufmerksam im Umgang miteinander, es gibt ein Awareness-Team, es wird gemeinsam gegärtnert und gekocht. Regelmäßig laden die WGs einander zu diversen Veranstaltungen ein. Die Angebote reichen von Buchclubtreffen über Partys bis zu Spieleabenden. Aber: Auch für diese Harmonie muss man der Typ sein. Nicht alle Menschen wollen sich wohl so stark in eine Gemeinschaft einbringen, wie es im CA eingefordert wird. Und können die für harmonisches Zusammenleben erforderliche Konsensfähigkeit vielleicht gar nicht aufbringen.

Sie entscheiden darüber, wer in das Wohnheim einzieht – und bestimmen auch, wie hoch die Miete sein soll.

Das Recht, als Gemeinschaft die für das Wohnheim relevanten Entscheidungen zu treffen, wollen Myriam und Lukas jedenfalls verteidigen. „Die Häuser sollen denen gehören, die drin wohnen“ – das sagen die beiden immer wieder. Um dies zu garantieren, sei die Collegium Academicum GmbH gegründet worden. Diese sei, juristisch gesehen, Eigentümerin des ganzen Wohnheims und habe zwei Gesellschafter. Zum einen den Wohnheimsverein – alle, die im CA wohnen möchten, unterschreiben mit dem Mietvertrag auch ihren Beitritt in den Verein. Dieser hat weitgehend Handlungsautonomie. Das bedeutet für den Alltag der Bewohner*innen: „Wir können das Gebäude umgestalten, wie wir wollen. Auch wer bei uns einzieht, können wir als Wohnheimverein entscheiden.“ Dann gibt es noch den zweiten Gesellschafter der GmbH: das Mietshäusersyndikat. „Das Mietshäusersyndikat hat bei bestimmten Dingen ein Vetorecht. Wenn es darum geht, das Haus zu verkaufen, abzureißen oder profitorientiert zu verwenden, bräuchten wir dafür die Zustimmung des Mietshäusersyndikats. Da dieses das Ziel hat, dauerhaft günstigen Wohnraum zu schaffen, den die Bewohner*innen selbstbestimmt gestalten können, bekommen wir die Zustimmung zu so etwas eben nicht“, erklärt Lukas.

Der Gebäudekomplex des CA umfasst unter anderem einen Dachgarten, ein Café mit Laden und den Altbau, in dem später ein Orientierungsjahr für Schulabgänger*innen angeboten werden soll. Grafik: Maurice Frank

Für Myriam und Lukas ist selbstverwaltetes Wohnen jedenfalls die Wohnform der Gegenwart. Lukas sagt: „Ich kann mir gerade nichts anderes für mich vorstellen.“ Myriam nickt und erzählt, dass sie schon vor Jahren mit Freund*innen Ideen für die Zukunft gesponnen habe. Damals dachte sie: „Eigentlich wäre es doch toll, wenn man gemeinschaftlich zusammenleben und dabei, was auch immer man braucht, zu teilen. Und jetzt, ein paar Jahre später, komme ich hier in Heidelberg an und finde etwas, das ziemlich nah an meiner Utopie dran ist.“

Und sie ergänzt: „Das Gute ist ja auch, wenn man merkt, hier ist etwas, das von meiner Wunschvorstellung abweicht, dann kann man das einfach ansprechen. Denn dadurch, dass wir selbstverwaltet sind, geht es immer darum, gemeinschaftlich Lösungen zu finden.“

Ich kann die Sehnsucht nach bezahlbaren Räumen für gemeinschaftliches Zusammenleben sehr gut nachvollziehen. Wer jedoch darüber nachdenkt, selbst Teil eines Projekts wie des CA werden, sollte sich darüber im Klaren sein, dass diese Projekte nicht aus dem Nichts entstehen. Lukas erzählt mir, dass er auch außerhalb der Semesterferien bis zu 15 Stunden seiner Zeit wöchentlich in das CA investiert. An der Utopie muss man arbeiten. Das kann anstrengend sein. Gleichzeitig ermöglicht es den Bewohner*innen des Projekts ein Ausmaß an Selbstbestimmung über den eigenen Wohnraum, an das man in einer Stadt, in der ein Großteil der Häuser im Besitz von Immobilienkonzernen ist, nicht mehr gewohnt ist. Rio Reiser jedenfalls wäre wohl begeistert.

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