Online Politikus Unileben

Das Schreckgespenst

Seit 2009 ist in Deutschland eine UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung in Kraft, das Stichwort ist „Inklusion“. Sie sollen für ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben alle Unterstützung erhalten, die sie brauchen. Beim Thema Schule schließt jedoch oft die Frage an: Wie soll das eigentlich in der Praxis funktionieren? Und: Wie ist es möglich, nicht anstelle der Menschen mit Behinderung zu sprechen, sondern mit ihnen? Ein Gespräch mit Aktivist Raúl Krauthausen.

 

phpCu1IQ3AM
Reizthema Inklusion: Von gemeinsamem Unterricht könnten auch nicht behinderte Schüler profitieren (Foto: Sozialhelden e. V – CC BY)

Philtrat: Herr Krauthausen, was ist Ihrer Meinung nach nötig, damit Inklusion im schulischen Bereich funktioniert und was kann hier getan werden?

RK: Ich bin der Ansicht, dass wir einfach damit anfangen sollten, etwas zu tun. Wir sollten nicht mehr ewig darauf warten, dass alle entsprechenden Fachkräfte und Lehrer ihre spezifische sonderpädagogische Aus- oder Fortbildung abgeschlossen haben, was ja momentan sehr laut gefordert wird. Schließlich sind Kinder mit Behinderung immer auch Kinder. Momentan ist es eher so, dass die Behinderung in den Diskursen zum Thema Inklusion über allem steht und die Tatsache überdeckt, dass man hier von Kindern spricht, die genauso wissbegierig, neugierig und lernbereit sind wie Kinder ohne Behinderung. Ich denke, sinnvolle Maßnahmen wären kleinere Klassen und der Einsatz von mehreren Pädagogen pro Klasse. Davon würde die gesamte Klassengemeinschaft profitieren, nicht nur die Kinder mit Behinderung.

Philtrat: Was sehen Sie als Vorteile und positive Effekte der Inklusion in der Schule – nicht nur für die zu inkludierenden Kinder, sondern auch für die Mitschüler, die Eltern, die Lehrer?

RK: Zunächst einmal: Es gibt keine „zu inkludierenden Kinder“. Denn Inklusion geht weiter als die Integration. Bei der Integration wird eine vermeintliche Minderheit in eine sogenannte Mehrheit „integriert“. Bei der Inklusion wird jeder so akzeptiert, wie er ist. Auch die Nichtbehinderten. Eine große Chance sehe ich bei der Inklusion darin, und das belegen auch zahlreiche Studien, dass durch einen gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung die sogenannten „Soft Skills“ geschult werden. Es hat sich gezeigt, dass diese „weichen“ Kompetenzen im Umgang miteinander, ganz egal ob zwischen Kindern mit Behinderung oder ohne Behinderung, in inklusiven Klassen deutlich besser ausgebildet sind als in homogenen Klassen. Zudem lässt sich eine negative Sichtweise auf Inklusion in Schulen durch die Annahme, die Kinder in einer inklusiven Klasse würden insgesamt langsamer lernen, nicht bestätigen. Im Gegenteil: Die Lerngeschwindigkeit ist hier meistens ebenso gut wie in homogenen Klassen oder sogar besser.

Philtrat: Wo sehen Sie also aktuell noch Verbesserungsbedarf bei den Maßnahmen, die ergriffen werden, um inklusiven Unterricht zu ermöglichen?

RK: Grundsätzlich sollte man versuchen, den Verantwortlichen – in diesem Fall den Lehrern – ihre Ängste zu nehmen. Das kann man zwar auch durch Fortbildungen machen, aber letztlich gelingt es vor allem durch die Konfrontation mit dem Thema. Behinderung sollte nicht sofort als ein „Schreckgespenst“ angesehen werden, sondern vielmehr als ein Aspekt von Vielfalt. Verbesserungswürdig ist auch die Barrierefreiheit in Schulen: Man sollte für die Integration von Rampen und Aufzügen in den Schulgebäuden sorgen und die Entwicklung barrierefreier Schulmaterialen fördern.

Philtrat: Wo wurden Maßnahmen zur Inklusion Ihrer Ansicht nach bereits erfolgreich umgesetzt?

RK: Meine eigene Grundschule und Gesamtschule sind da ein gutes Beispiel. Hier waren die Klassengrößen kleiner als im Durchschnitt, es gab mehrere Pädagogen pro Klasse und es wurde Ziel-differenzierter unterrichtet und für einen starken Zusammenhalt innerhalb der Klassengemeinschaft gesorgt. Die Fläming-Grundschule und die Sophie-Schütz-Oberschule in Berlin sind Paradebeispiele für eine gelungene Umsetzung.

Philtrat: Herr Krauthausen, vielen Dank für das Gespräch.

Erfahrt mehr über Inklusion in der aktuellen Ausgabe von Philtrat (Nr. 18) – ab sofort in der Schellingstraße 3 und im Lichthof der LMU erhältlich.

 

Raúl_Krauthausen_c_Esra_Rotthoff_2013_2Raúl Aguayo-Krauthausen, 1980 in Lima geboren, spricht von sich selbst als „Berliner, Glasknochenbesitzer und Aktivist“. Er studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste in Berlin und absolvierte ein Zusatzstudium in Design Thinking in Potsdam. 2004 gründete er gemeinsam mit seinem Cousin den gemeinnützigen Verein SOZIALHELDEN, mit dem er sich für Inklusion und Barrierefreiheit einsetzt. Zudem ist er an verschiedensten Projekten zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen beteiligt, darunter Wheelmap.org, Selfpedia.de, Leidmedien.de oder Inklusionsfakten.de, eine Initiative, die mit den Vorurteilen gegenüber einem inklusiven Unterricht aufräumen will. Für sein soziales Engagement wurden Raúl Krauthausen und seine Projekte bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande. 2014 erschien sein Buch Dachdecker wollte ich eh nicht werden bei rororo.

Für dich vielleicht ebenfalls interessant...