Kulturphilter Online

Zeit kosten

Es gibt Apps, mit denen man kostenlos quer über den gesamten Globus kommunizieren kann, oder mit denen Berechnen kann, wie viel ein Freund in Kamelen wert wäre. Wir haben den Dschungel an Apps durchforstet und uns gefragt: Wieviel an den kleinen schwarzen Löchern, in denen unsere Zeit verschwindet, ist nützliche Beschäftigung, wieviel Unterhaltung und wieviel reine Zeitverschwendung? Wo schlägt die Selbstkontrolle, die manche Apps offerieren, in Zwang und Obsession um? Und was geschieht eigentlich mit den Benutzerdaten?

Von Leonhard Landes

hand-apple-iphone-smartphone„Wenn das mit den Veganern und Vegetariern so weiter geht, sehe ich mich in Zukunft schon mit einer Rostbratwurst draußen bei den Rauchern stehen…“ Dieser polarisierende Spruch stammt aus der App Jodel. Sein Urheber muss sich aber um Anfeindungen von Seiten der Gemüse-Taliban keine Sorge machen, denn Jodel ist ein anonymer Campustalk. Die App funktioniert im Grunde wie Twitter. Jeder User hat eine knackige Anzahl von Zeichen zur Verfügung, einen kleinen Text zu schreiben. Nur das in Jodel jeder Verfasser nach Veröffentlichung anonym bleibt und der gejodelte Text nur innerhalb eines 10 Kilomenter-Radius lesbar ist. Hat die App aber auch irgendeinen praktischen Nutzen für ihre Nutzer? Sicher lässt sich bezweifeln, ob etwa Getränke-Tipps, wie ein fast ausgekratztes Nutellaglas mit Milch zu füllen und in die Mikrowelle zu stellen das langfristige Fortkommen der Menschheit sichern. Pragmatischere Fragen, wie solche zum Studium, zu Professoren oder nach guten Restaurants können andere Benutzer der App aber durchaus gewinnbringend beantworten. Es gibt immer jemanden, der sich in dem gefragten Gebiet auskennt. Insgesamt ist die App aber mehr Zeitvertreib. Die Unterhaltung steht im Vordergrund und echten Fortschritt im Studium behindert schon das Suchtpotential der App, das stark an 9Gag erinnert. Ständig entdeckt man neue witzige Sprüche und neue Absurditäten des Alltags.

Manchmal verrinnt die Zeit als hätte die Sanduhr ein Loch im Boden. Nach zwei Stunden Drücken, Scrollen und Wischen kommt man zu sich und weiß nicht, wo die Stunden abgeblieben sind. Das benutzte Geschirr dümpelt weiterhin in der Spüle und die zweihundert Seiten Skript sind noch immer unberührt. Dass man seine Zeit sinnlos vergeuden kann, ist nicht neu. Ob man vor dem Fernseher klebt oder vor dem Bildschirm seines Smartphones, macht dabei äußerlich keinen großen Unterschied. Erschreckend aber ist, wie sich die Informationsflut der Smartphones auf die Gehirnfunktion auswirken. Laut einer Studie von Microsoft verfallen wir zunehmend in den Modus der selektierenden oder alternierenden Aufmerksamkeit (aka Multitasking), statt konzentriert eine Aufgabe anzugehen. Dadurch sei die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne, eine Art sensorischer Flash-Speicher, seit 2000 von zwölf auf acht Sekunden gefallen – und damit unter das Niveau eines Goldfischs von neun Sekunden. Na dann, Prost Mahlzeit, liebe Menschheit.

Das aber klingt dramatischer, als es eigentlich ist. Auch wenn wir manchmal in ein Zimmer gehen und danach nicht mehr wissen, was wir in diesem wollten, bewegt sich noch kein Mensch wie ein Goldfisch in seinem Glas selbstvergessen im Kreis und meint dabei, er komme vorwärts. Die gesunkene Aufmerksamkeitsspanne könne laut Microsoft auch positiv gedeutet werden, weil wir in kürzerer Zeit begreifen und erfassen, was uns nicht interessiere und darum nicht unserer Aufmerksamkeit wert sei. In ein paar Sekunden weiß man in Tinder, ob man nach links oder rechts wischen möchte. Und schnell ist auf den ersten Blick klar, ob jener Facebook-Post lustig ist oder eben nicht. Ist die Unterhaltung der Apps jetzt gefährlicher als Unterhaltung von anderen Medien? Überwiegt am Ende ein Mehrwert oder ist Unterhaltung durch Apps gleich Verblödung? Wer zwei Stunden auf Jodel, Tinder, Facebook & Co. verbringt, ist danach vielleicht nicht viel schlauer als nach zwei Stunden RTL II. Aber im Gegensatz zum vorhersehbaren Trash-TV bieten diese Apps die Möglichkeit einer Begegnung – ob mit einem Menschen, einer Geschichte oder einer bestimmten Erkenntnis. Mit etwas, das zum Nachdenken anregen kann. Deswegen sollte man angesichts der Apps nicht in einen kulturpessimistischen Kanon verfallen und sie dämonisieren. Auf Jodel finden sich teilweise zugespitztere und geschliffenere Sätze als im Streiflicht der Süddeutschen. Was sich unter der eindimensionalen Oberfläche von Tinder an berührenden Geschichten abspielt, wissen meist auch nur zwei Menschen. Und in Facebook kann der Nutzer mit der ganzen Welt in Kontakt treten.

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