Philtrat spricht mit Comicautorin Barbara Yelin über „Wie geht es dir?“: Ein kollektives Projekt, das sich mit den Folgen des 07. Oktober 2023 durch Interviews mit Betroffenen auseinandersetzt. Wöchentlich veröffentlichen Zeichner*innen online Comics, um Perspektiven und Menschen einen Raum zu geben, die im öffentlichen Diskurs verstummen.
Das Gespräch führte Christopher Bertusch
Frau Yelin, wie geht es Ihnen?
Barbara Yelin: Mir geht es gut.
Die Frage bezieht sich natürlich auf Ihr Projekt „Wie geht es dir?“ Was versteht sich darunter und wie ist es entstanden?
Das Projekt war eine Reaktion auf die Krise nach den Angriffen der Hamas vom 07. Oktober. Eine Reaktion auf den Antisemitismus, aber auch die Islam- und Muslimfeindlichkeit. Wir sehen eine Polarisierung der Gesellschaft, die verschiedene Gruppen in Isolation und Gefahr bringt. Wir sind eine freie Gruppe an Zeichnenden, die sich im letzten November mit einer gemeinsamen Intention zusammengeschlossen haben. Da wir uns alle vielfach mit zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Themen beschäftigen, haben wir uns überlegt, in welcher Form wir dazu beitragen können, aus unserer Sprachlosigkeit rauszukommen und gleichzeitig Menschen, die betroffen sind, einen Raum zu geben. Es geht darum, als Kulturschaffende die Möglichkeit unserer Stimme zu nutzen und sich klarzumachen, dass es im Moment wichtig ist, wirklich zuzuhören.
Warum eignet sich der Comic dafür?
Wir können mit Bildern Geschichten, Sichtweisen und Gefühle von Menschen sichtbar machen, ohne diese auszustellen oder sie in Gefahr zu bringen. Sie können anonymisiert werden, aber trotzdem eine klare Stimme beibehalten. Ein Comic ist ja immer auch eine große Reduktion. Man sucht etwas aus, das sich durch Bilder nochmal anders erzählen lässt. Man kann andere Menschen durch die Bilder teilhaben lassen. Das Zuhören ist die Basis dafür.
Es wurde uns recht schnell klar, dass die Erzählform der Comics eine Vielstimmigkeit ermöglicht. Hier sprechen Menschen, die betroffen sind. Ich denke, wir müssen wieder lernen, auszuhalten, dass es eben verschiedene Stimmen gibt und dass es verschiedenen Schmerz gibt. Die Aufgabe ist es zuzuhören und gleichzeitig mit größter Klarheit darauf zu schauen, was Sprache und natürlich auch Bilder ausdrücken. Wie können unsere Comics etwas transportieren, ohne in eine Form der Polarisierung, Pauschalisierung oder Feindlichkeit zu geraten? Wir zeigen diese Stimmen und gleichzeitig machen alle Beiträge uns ihre Situation verständlich und lassen uns teilhaben, durch die Frage: „Wie geht es dir?“
Warum gerade diese Frage?
Es war die Frage, die am meisten gefehlt hat. Das ist eine Erkenntnis, die von mir persönlich im Dialog mit Menschen mit verschiedenem Hintergrund entstand: „Eure Sprachlosigkeit und euer Schweigen lassen uns allein.“ Wo seid ihr, die ihr die Stimme erheben könnt? Warum sagt ihr nichts? Die Frage hat aus meiner Sicht oft gefehlt, weil viele Leute sie aus einer Vielfalt an Hemmungen, Ängsten oder vielleicht auch aus Bequemlichkeit übersprungen haben. Unser Projekt versucht eine direkte menschliche Ansprache und öffnet dafür einen Raum. Gleichzeitig suchten wir bewusst Interviewpartner*innen, die an Offenheit und Dialog interessiert sind. Nur so können wir diese Plattform offenhalten.
Mit welchen Personen sprechen Sie für das Projekt?
Natürlich versuchen wir Menschen anzusprechen, die sonst nicht gehört werden. Es sind aber auch Autor*innen, Aktivist*innen, Journalist*innen dabei, also Menschen, die bereits publizieren oder sonst eine Stimme haben. Aber diese persönlich zu fragen „Wie geht es dir, jetzt?“, das ist nochmal eine andere Frage. Wir können dabei nicht abdecken, wie es den Menschen im Nahen Osten geht, das wäre noch einmal eine andere, viel größere Aufgabe. Wir versuchen uns auf das Hier zu konzentrieren: Wie geht es Menschen hier, die betroffen sind von den Nachwirkungen des Angriffs der Hamas vom 07. Oktober und der Folgen? Menschen, die unter Antisemitismus, Hass, Rassismus und Muslimfeindlichkeit leiden. Aber auch Menschen, die in Institutionen arbeiten, die sich damit beschäftigen. Expert*innen, die eventuell auch von dieser vielschichtigen Belastung persönlich betroffen sind. Wir haben mit vielen Menschen gesprochen, die einen internationalen Hintergrund haben. Für diese bedeutet die Teilnahme bei unserem Projekt Mut und eine Großzügigkeit, die überhaupt nicht selbstverständlich ist.
Es sind Menschen aus unserem persönlichen Umfeld dabei, Freunde und Freundinnen. Es sind aber auch Menschen, die wir ganz bewusst anfragen. Ich selbst habe zuerst mit Emmie Arbel gesprochen, weil ich mit ihr schon jahrelang im Dialog bin. Emmie ist Überlebende des Holocausts, sie hat drei Konzentrationslager überlebt und wir haben gemeinsam im September 2023 ein Buch über ihre Erinnerungen fertiggestellt. Ein anderes Gespräch, für das ich sehr dankbar bin, war mit Rasha Khayat. Sie ist deutsche Autorin mit arabischem Hintergrund und hat über ihre Situation gesprochen. Es ging um die Wichtigkeit der Literatur und Geschichten aus der Perspektive von Menschen, die marginalisiert werden. Viele von uns haben Beiträge erstellt von jemandem mit einem jüdischen und jemandem mit einem arabischen oder palästinensischen oder anderen Hintergrund.
Egal aus welcher Richtung die Menschen sprechen, in fast jedem Beitrag gibt es eine gemeinsame Verbindung durch den unglaublich großen Wunsch nach Frieden. Oft kommt auch dieses Gefühl der Isolation zur Sprache, durch die Nachwirkungen der Ereignisse. Oder auch das Gefühl, nicht mehr frei sprechen zu können, sich nicht mehr zu trauen, zum Beispiel Hebräisch zu sprechen, weil es zahllose antisemitische Übergriffe in der Öffentlichkeit gab. Oder auf der anderen Seite das Gefühl zu haben, nicht sprechen zu dürfen, weil man hier einen unsicheren Status hat, weil man nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft ist.
Wie treten die einzelnen Comickünstler*innen an Sie heran?
Wir haben uns offen zusammengefunden und auch wir als Kurator*innengruppe sind nicht hermetisch geschlossen. Wir haben weitere Zeichnende eingeladen, die wir kennen. Es melden sich aber auch selbstständig Leute, die wir gar nicht auf dem Zettel hatten. Das freut uns sehr! Wir arbeiten ausschließlich mit Zeichnenden, die schon erfahren sind. Denn in einem Gespräch entsteht eine solche Fülle an Wichtigkeiten. Die zu reduzieren, eine Essenz daraus zu schaffen, dazu braucht man Expertise, und auch darin, was im Bild und was im Text erzählt werden kann. Es ist ja eine gewisse Verantwortung, die man hier trägt. Wenn ich eine Skizze gemacht habe, schicke ich die meiner Interviewperson und diese darf sie autorisieren oder Änderungswünsche äussern. Das Arbeiten mit dokumentarischen Comics hat immer auch etwas Journalistisches. Aber die Kunst ist dabei wichtig! Die Kunst, dass Bilder etwas sagen können, was Worte nicht so gut begreifbar machen und dass sie auch eine Form der Nähe zulassen – eine Emotionalität, die damit transportiert wird.
Sehr wichtig für uns ist die Unterstützung, die wir vom Kulturamt Erlangen bekommen, das unser Projekt organisatorisch begleitet, und die Expertise und Beratung von Dr. Véronique Sina (Goethe-Universität Frankfurt), die uns mit Sensitivity Reading unterstützt.
Gibt es Pläne für eine Buchveröffentlichung oder haben Sie bewusst den digitalen Raum gewählt?
Für mich steht tatsächlich erstmal das Digitale im Vordergrund, weil das die unmittelbarste Form der Veröffentlichung ist. Und darum geht es gerade. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es eine Publikation geben könnte. Aber es geht um einen jetzigen Kommentar, der aktuell gegen die Polarisierung vorgeht.
Sie planen eine Ausstellung im Internationalen Comic-Salon Erlangen (30.05 bis 02.06). Bildet das vorerst einen Abschluss?
Das ist erstmal das Nahziel des Projekts. Wir kriegen irre viele Geschichten und es wird noch einiges bis dahin kommen. Wie es dann weitergeht, lassen wir so offen wie das Projekt selbst. Ich kann mir vorstellen, dass es weitergeht, ich kann mir vorstellen, dass wir es sogar noch erweitern. Je länger wir das machen, desto mehr wird uns klar, dass wir noch viel mehr Menschen zuhören sollten… Jetzt bleiben wir aber erstmal in diesem Rahmen und bei diesem Konzept. Wir erreichen wahrscheinlich irgendwann eine persönliche Grenze unserer Kapazität, wir machen das ja alles ehrenamtlich, wie übrigens auch alle Zeichner*innen des Projekts. Aber bei guten Projekten ist es so, dass sie sich gerne in neue Hände weiterbewegen.
Was wünschen Sie sich, das die Leser*innen aus Ihrem Projekt mitnehmen?
Unterschiedliche Einblicke, die Erfahrbarkeit von persönlichen Situationen und die große Wichtigkeit, dass man miteinander in Kontakt bleibt, miteinander redet und sich zuhört. Empathie und Verständnis. Aufmerksamkeit. Die Einsicht in die Vielschichtigkeit der Betroffenheiten. Dass man am Ende rausgeht und merkt: Ach so ist das. Ich habe das noch gar nicht verstanden von dieser Seite. Ich glaube, dass Projekte gut sind, bei denen man auch Fragen mitnimmt. Vieles kann jetzt gerade nicht beantwortet werden. Es ist eine schwierige Zeit. Aber den Kontakt nicht zu verlieren und die Fragen mitzunehmen, das ist ein erster, wichtiger Schritt.
Die Initiator*innen des Projekts sind die Zeichner*innen Hannah Brinkmann, Nathalie Frank, Michael Jordan, Moritz Stetter, Birgit Weyhe und Barbara Yelin. Weitere Informationen auf der Website des Projekts oder auf Social Media: @comics_wiegehtesdir.