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„Welche Kinder sollen hier geschützt werden?“

Eine Lesung zweier Drag-Artists in der Stadtbibliothek Bogenhausen sorgt am vergangenen Dienstag für Aufregung. Gegendemonstrant*innen, unter anderem aus den Reihen der AfD, befürchten „Genderpropaganda“ und „Kindswohlgefährdung“. Doch auch Menschen, die sich mit der Lesung solidarisch zeigen wollen, haben sich auf dem Rosenkavalierplatz eingefunden. Über Dragqueens, katholische Priester und die Frage, was Kindswohl eigentlich bedeutet.

Auf dem Schild einer Protestantin ein Spruch, der beinahe universell einsetzbar scheint: „I can’t believe I still have to protest this fucking shit“. ©Pauline May

Von Pauline May

Etwa 800 Menschen haben sich laut Angabe der Veranstalter*innen bei dem Protest des Bündnisses „München ist bunt“ vor der Stadtbibliothek Bogenhausen versammelt. Viele von ihnen tragen Glitzer auf den Wangen, haben sich Bärte aufgemalt und in Regenbogenflaggen gehüllt. Seifenblasen schweben über der Menge. Immer wieder erklingen Sprechchöre: „Eure Kinder werden so wie wir! Eure Kinder werden alle queer!“, „Ganz München hasst die AfD!“, „Transfeindlichkeit ist keine Meinung!“  Schließlich tritt als erster Redner nach der Versammlungsleiterin Micky Wenngatz ein Mann vor, der zumindest optisch mit der bunten Masse der Protestierenden kontrastiert. Markus Rothe trägt eine schwarze Kutte mit weißem Kollar. Und er ist: katholischer Priester. Aber keiner derjenigen, die an diesem Tag Sühnegebete veranstalten. Rothes Glaube richtet sich gegen Queerfeindlichkeit, die AfD hat er wegen Volksverhetzung angezeigt. In Richtung derjenigen, die in der katholischen Kirche von „Frühsexualisierung“ und „Indoktrination“ sprechen, sagt er: „Ich schäme mich für meine Glaubensgeschwister.“ Dann erzählt er von seinem ersten CSD im vergangenen Jahr. Er habe sich gefragt, ob er wirklich ein Teil davon sein dürfe. Ob das nicht vermessen sei, als Repräsentant der katholischen Kirche. Dann seien ein paar Dragqueens auf ihn zugekommen. „Natürlich bist du hier willkommen“, hätten sie gesagt. „Danke, dass mein Schwarz-weiß auch in diesem Bunt hier Platz hat. Amen!“, schließt Rothe seine Rede.

©Pauline May

Über das Gefühl, sicher und willkommen zu sein, spricht auch der Geschäftsführer des Münchner CSD. Während die AfD ausführt, dass Kinder und Jugendliche durch die LGBTQIA+-Community im Allgemeinen und Dragqueens im Besonderen gefährdet würden, ruft Appelt in die Menge: „Ich hätte mich gefreut, meine Identität früher leben zu können, ich konnte das erst mit 39!“

Eine trans Frau erzählt davon, wie es war, sich erst im Erwachsenenalter als trans zu outen. In ihrem beruflichen Umfeld, dem bayrischen Staatsorchester, habe sie nie Schwierigkeiten erfahren.  Ihre Kinder jedoch seien , als ihr Transsein bekannt wurde, in der Schule so heftig gemobbt worden, dass sie beschloss, die Familie für einige Jahre zu verlassen. „Diese Leute da drüben“, ruft sie in Richtung des AfD-Protests, „die haben keine Ahnung von der Diskriminierung, die ich erlebt habe.“  Ein junger trans Mann, im ersten Ausbildungsjahr als Erzieher, meint: „Diese Politik tötet queere Kinder und Jugendliche, weil sie nicht sie selber sein können.“

Bücher als Kindswohlgefährdung?

Auch Uli Kastenbauer, Mann der Dragqueen Pinay Colada, sagt: „Mir hat die Sichtbarkeit gefehlt. Lesungen wie diese können queeren Kindern helfen. Und denen, die nicht queer sind, weil sie sich über fantasievolle Geschichten ebenso freuen.“ Kinder queer zu machen hingegen, das sei ein altes Märchen der Rechten. 

Dann kommt Jeanne auf die Bühne, sagt mit fester Stimme: „Ich bin intergeschlechtlich, und das ist gut so!“ Bei der Geburt hätten die Ärzte das Geschlecht nicht zuordnen können, schließlich „weiblich“ in die Geburtsurkunde eingetragen. Jeannes „Erzeuger“ habe sich jedoch immer einen „Stammhalter“ gewünscht, deswegen sei Jeanne als Junge erzogen worden. Mit 16 hat Jeanne sich schließlich geoutet, als bisexuell. „Dann gab es erstmal Hetero-Pornos, damit ich ja nicht schwul werde.“ Mit 23 dann wurde Jeanne Teil der queeren Community, mit 30 schließlich folgten geschlechtsangleichende OPs. Heute sagt Jeanne über sich selbst: „Ich bin weder Mann noch Frau, ich stehe zwischen diesen Geschlechtern.“ Dann reckt Jeanne den Arm in die Höhe, in der Hand das Kinderbuch „PS: Es gibt Lieblingseis“. „Diese Bücher über Menschen wie mich sollen Kindeswohlgefährdung sein?“ Das hatte unter anderem Freie-Wähler-Chef Aiwanger im Vorfeld über die Drag-Lesung behauptet. In seiner Argumentation gleicht er damit vielen AfD-Mitgliedern. 

Ein Anwalt erklärt auf der Bühne, dass dieser Vorwurf Aiwangers keineswegs juristisch legitimierbar sei. „Im Jugendschutzgesetz steht nicht, wie die Menschen gekleidet sein sollen, die Kindern vorlesen. Kultur ist frei! Dass nicht so viele Rechte heute hier sind, liegt wohl auch daran, dass das Ganze hier vor einer Stadtbibliothek stattfindet. Den Ort kennen die wohl nicht so gut. Ernsthaft um das Kinderwohl scheint es den Parteien jedoch nicht zu gehen, die das behaupten, sonst würden nicht 20 Prozent aller Kinder von Kinderarmut bedroht sein.“ Auch gegen die Tatsache, dass „schwule Sau“ noch immer eine der Hauptbeleidigungen auf deutschen Schulhöfen sei, werde nichts unternommen. „Welche Kinder sollen also geschützt werden?“ 

Queere Kinder jedenfalls nicht. Am Bühnenrand lehnt in diesem Moment Dragking Ruby Tuesday, richtet sich den hellblauen Bart und schaut dabei sehr nachdenklich aus. Viele Demonstrant*innen umarmen sich, halten einander fest. Was sonst könnte ihnen Sicherheit geben? 

„Lasst uns einfach unseren Job machen“

Schließlich betritt die erste Dragqueen die Bühne. Daphne Ryan ruft: „Liebe Haselmäuse, es ist fantastisch! Wenn es drauf ankommt, dann stehen wir doch zam.“ Die Chefin des Vereins „United Queens of Munich“ erzählt, dass dieser als gemeinnützig anerkannt sei. Auch Dragqueen Pinay Colada betont: „Wir sind Künstler*innen. Wir wollen Freude verbreiten. Lasst uns einfach unseren Job machen.“

Obgleich an diesem Tag viel über Sichtbarkeit geredet wird, kann die Person, die an diesem Nachmittag in der Stadtbibliothek eigentlich im Zentrum stehen sollte und allen ihre Geschichte erzählen wollte, nicht sichtbar werden: die dreizehnjährige Autorin Julana Gleisenberg. Für das trans Mädchen und ihre Familie sei es angesichts einer Vielzahl an Morddrohungen zu gefährlich gewesen, zur Lesung zu kommen. Filmemacherin Susanne Kurz nennt das „rechte Cancel Culture“. „Hier, in der Hauptstadt der Bewegung, soll das Stattfinden literarischer Lesungen verhindert werden. Das ist ein Skandal.“ Und tatsächlich haben Identitäre während der Lesung versucht, in die Stadtbibliothek einzudringen. Die Sicherheit queerer Menschen scheint so fragil wie die Seifenblasen, die an diesem Nachmittag gen Himmel gepustet werden. Das Plakat einer jungen Frau scheint auszudrücken, was viele in diesem Moment fühlen: „And we keep loving anyway“.

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