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„Du bist doch auch nicht besser!“

Ausbeutung, Klimawandel, Fleischkonsum – darf man Missstände kritisieren, zu denen man selbst beiträgt? Oder ist man dann ein*e Heuchler*in? Ein Kommentar.   

Der Finger zeigt immer auf die Anderen. Bringt uns das weiter? ©Anja Blaser

Von Sophie Opora 

Es ist ein typischer Mittwochmittag; ein Freund und ich diskutieren schon wieder: Er ist verärgert, weil ich mir bei TradeRepublic Aktien gekauft habe, obwohl ich links eingestellt bin und schon öfter das kapitalistische Gesellschaftssystem kritisiert habe. Er findet es inakzeptabel, wenn ich es mir herausnehme, den Kapitalismus zu kritisieren, aber, wie er sagt, trotzdem in höchstem Maße von ihm profitiere. 

Doch bevor das große H-Wort fällt, möchte ich wissen: „Wer hat denn das Recht den Kapitalismus zu kritisieren?“ 
Auf meine Nachfrage führt er aus: „Wenn du dich nicht entsprechend deinen Prinzipien verhältst, giltst du als unglaubwürdig und bist halt die größte Heuchlerin.“ Da war es, das H-Wort. 

Ganz schön extrem, finde ich. Muss ich denn als Vollzeitaktivist*in arbeiten und meine eigene Kommune gründen, bloß um die westliche Wirtschaft nicht zu unterstützen? Wenn ich ein Buch günstiger bei Amazon bestelle, bin ich anscheinend genauso böse wie Jeff Bezos, dessen Vermögen zu einem beachtlichen Teil durch Ausbeutung und Vermeiden von Steuern zustande kommt. Und das kann ich ja nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Oder? 

„Wer die Welt verändern will, muss bei sich selbst anfangen!“

Das Phänomen, das hinter dieser Art zu denken steckt, nennt sich „politischer Moralismus“. 
Er verlangt, dass der Mensch sein Verhalten seinen moralischen Prinzipien anpasst und das auch mit erhobenem Finger bei anderen überprüft.
 Das aber ist meiner Meinung nach eher schädlich. Denn da offensichtlich ist, dass nahezu jedes Problem den Einflussbereich der*s Einzelnen übersteigt, wie könnte man da das „falsche“ Verhalten eines*r Einzelnen für gesamtgesellschaftliche Fehlentwicklungen verantwortlich machen? Dies gilt insbesondere im Falle eines etablierten Wirtschaftssystems wie des Kapitalismus, dessen Einfluss bis in alle Bereiche der modernen Welt reicht. 

Die alltägliche Ausprägung des politischen Moralismus macht sich auch häufig in Debatten bemerkbar, wodurch sich der Argumentationsstil meines Erachtens in eine unproduktive Richtung entwickelt hat.
 Folgender Vorschlag: Anstatt dass wir jedes mal zum Moralapostel mutieren und unser Gegenüber des Heuchelns bezichtigen, brächte es uns weiter, uns mehr auf den Inhalt der Aussage des jeweils Anderen zu fokussieren und nicht direkt die Aussage an seiner oder ihrer Person zu messen. Argumente gelten unabhängig von dem*der Argumentierenden – ob mich ein*e Fleischesser*in oder ein*e Veganer*in auf die ökologischen Konsequenzen des übermäßigen Fleischkonsums hinweist, sollte keinen Unterschied machen. 

Das sogenannte argumentum ad hominem, das dann dem*der Argumentierenden gerne entgegnet wird – es könnte beispielsweise lauten: „Du fährst dir doch selbst fünfmal die Woche `nen Döner rein!“ – bezieht sich nämlich nicht auf das Argument, sondern auf das Verhalten des*der Sprechenden. 
Im Endeffekt kann sich niemand an Gesprächen dieser Art bereichern – man ist genauso schlau wie vorher (nur zusätzlich noch leicht genervt vom Gegenüber). 

Sich selbst anzupassen ist nicht ausreichend 

Zurück zur heutigen Gesellschaft: Man kann nicht hoffen, sich durch beständiges Moralisieren eine Gesellschaft von Menschen heranzuzüchten, die durch ihr vorbildliches Handeln im Alltag alle großen Probleme dieser Welt lösen und jedes Eingreifen vonseiten der Politik überflüssig machen. Schön wär’s, aber so einfach ist es leider nicht. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, nach jahrzehntelanger rasanter Entwicklung von hochkomplexen gesellschaftlichen Strukturen, diese zu überblicken und eine pragmatische Antwort auf diverse Konsequenzen von Entscheidungen und Handlungen zu erarbeiten. 

Bernd Ulrich hat dies in einem Artikel der Wochenzeitung Die Zeit so zusammengefasst: „Moralische Debatten gehen nicht so leicht zu Ende, sie bedürfen auch nicht des Kompromisses – Politik hingegen hat beides: Kompromiss und Entscheidung. Damit nimmt sie eine Last auf sich und der Gesellschaft von der Seele. Genau das ist ihre Aufgabe.“ 

Wir müssen nicht nur uns selbst, sondern auch den gesetzlichen und politischen Rahmen anpassen. Das Ziel bleibt dasselbe, nur der Weg dorthin ist ein anderer. 

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