Interview Kulturphilter

„Die eigentliche Ware bildet in sozialen Medien das Selbst“

Ein schriftlicher Austausch mit dem Medien- und Kulturwissenschaftler Robert Dörre über BeReal, politische Kommunikation und die Wahrnehmung von Authentizität in sozialen Medien.

Soziale Medien erlauben Selbstentwürfe aller Art – und die Abgrenzung von anderen. ©Pixabay

Das Gespräch führte Felix Meinert

Wir führen dieses Interview in schriftlicher Form per E-Mail. Führt dieses digitale Medium zu einer Verzerrung unserer Kommunikation? Macht es sie in irgendeiner Weise unauthentisch?

Authentizität bezieht sich auf ein Verhältnis zwischen dem, was an der Oberfläche beobachtet werden kann, und dem, was in der Tiefe vermeintlich tatsächlich passiert. Es muss also einen Vermittlungsprozess geben, der dieses Innere zum Ausdruck bringt und deshalb immer auf Medien angewiesen ist: darunter auch Interview, E-Mail, digitale Medien, Schrift. Ein Interview folgt gewissen Skripten und verteilt Rollen zwischen fragender und antwortender Person. Dadurch, dass dieses Interview schriftlich geführt wird, haben wir die Möglichkeit, uns Antworten und Rückfragen länger zu überlegen. Kommunikation ist also nie frei von Vermittlung. Die mediale Form prägt diese Vermittlung auf spezifische Weise. Ob ich mich deshalb gerade weniger authentisch verhalte als etwa am Geburtstagstisch meiner Großeltern, hängt davon ab, wie Sie Authentizität definieren.

Und wie definieren Sie Authentizität? Und vielleicht noch wichtiger: Welche Vorstellung von Authentizität prägt unser kollektives Denken und unseren Medienkonsum?

Die Aufgabe einer Definition wäre, etwas festzulegen. Als (Medien-)Kulturwissenschaftler interessiere ich mich stärker dafür, welche Bedeutungen mit einem Begriff verbunden werden. Im Fall sozialer Medien wird Authentizität häufig im Zusammenhang mit Begriffen wie Echtheit, Glaubwürdigkeit, Ursprünglichkeit und Aufrichtigkeit verhandelt. Zugleich geht damit der Vorwurf einher, Menschen würden sich auf sozialmedialen Plattformen gerade nicht wahrhaftig oder unverfälscht verhalten.

Können Sie das Konzept näher erläutern?

Mit dem Begriff Authentizität beschreiben wir einen „Effekt“. Ich würde nicht davon sprechen, dass etwas authentisch ist, sondern dass es authentisch wirkt. Authentizität wird häufig als etwas Eindeutiges und Bestimmbares verstanden. Wir leben aber in einer Gesellschaft voller Widersprüche, Ambiguitäten und Paradoxien. Konzepte wie Authentizität sind attraktiv, weil sie versprechen, diese Zweifel einzuhegen und Komplexität zu reduzieren. Der Literaturwissenschaftler Erik Schilling spricht über Authentizität daher als „Sehnsucht“.

Robert Dörre ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Theorien, Ästhetik und Politiken digitaler Medien am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum.
©Robert Dörre

Seit 2020 existiert die soziale Plattform BeReal. Diese App fordert Nutzer*innen einmal pro Tag zu einem Foto auf, egal in welcher Situation sie sich gerade befinden. Welchen Schluss ziehen Sie aus der hier gestellten Forderung, „echt“ zu sein? Haben wir dieses Echtsein in sozialen Medien verlernt?

Das Wesen eines Menschen als „echt“ oder „unecht“ zu bewerten, halte ich nicht für sinnvoll. Spannend finde ich aber, wie sozialmediale Plattformen die Vorstellung von Authentizität vermarkten. Durch BeReal zeigt sich, woraus sich die Authentizitätshoffnungen in den meisten Fällen speisen: Distinktion. Es wird dezidiert versucht, BeReal in Kontrast zu anderen Plattformen zu positionieren. Natürlich unterscheidet sich die App in ihren Möglichkeiten etwa von Instagram. Aber auch bei BeReal spielen Inszenierungen und Trends eine Rolle.

Ist Individualität – als Form der Abgrenzung von anderen – heute paradoxerweise selbst zu einer gesellschaftlichen Norm geworden?

Der Kabarettist Rainald Grebe sang einmal über das Leben im Prenzlauer Berg: „Die Menschen sehen alle gleich aus, irgendwie individuell“. Er bezog sich damit satirisch auf eine bestimmte Ausprägung bürgerlicher Existenz. Dieses Zitat macht darauf aufmerksam, dass Abgrenzung oft nicht allein auf der Ebene von Individuen, sondern auch zwischen Gruppen, Gemeinschaften oder (Sub-)Kulturen stattfindet. Auch in sozialen Medien zeigen sich solche Formen der Vergemeinschaftung. Individualität spielt dabei aber eine untergeordnete Rolle, weil es darum geht, durch die Verwendung gemeinsamer sprachlicher oder ästhetischer Zeichen Zugehörigkeit zu stiften und zu signalisieren.

Von Politiker*innen wird häufig erwartet, möglichst nahbar und persönlich aufzutreten. Dazu gehört heutzutage auch die Social-Media-Präsenz. Stehen politische Selbstvermarktung und authentisches Auftreten in einem notwendigen Widerspruch zueinander?

Die Wahlforschung beobachtet seit Langem Tendenzen der Personalisierung. Diese sind mit Fragen der Authentizität verbunden, spielten aber schon vor dem Aufkommen sozialer Medien eine Rolle. So hielt man Gerhard Schröder für besonders nahbar und authentisch, weil er in Interviews schon mal nach ’ner Flasche Bier gefragt hat. Diese proletarische Anmutung hat sich aber nicht in seinem politischen Handeln niedergeschlagen. Auf der anderen Seite gibt es politische Repräsentant*innen, die in dem Sinne sehr authentisch sind, als dass sie keinen Hehl aus ihrer politischen Programmatik machen, sei sie noch so menschenverachtend. Diese Tendenzen stehen für mich also in keinem notwendigen Widerspruch zueinander oder werden allein durch soziale Medien forciert.

Erfordert es die Logik der höchsten Aufmerksamkeit in sozialen Medien, möglichst kurz und plakativ zu kommunizieren, um gesehen zu werden? Was bedeutet das für politische Diskussionen?

Politische Kommunikation war wahrscheinlich schon immer plakativ. Mit langatmigen Traktaten gewinnt man schwer eine Wahl. Deshalb spielen nicht nur die Logiken eines Mediums – etwa eines Kurznachrichtendienstes wie Twitter – sondern auch die Logiken politischer Systeme eine Rolle. Im Modell einer deliberativen Demokratie, die stärker auf die argumentative Beteiligung von Bürger*innen setzt, hätte komplexere Informationsvermittlung vielleicht einen höheren Stellenwert.

Stellen Sie sich vor, Sie sind Influencer und werben auf Instagram für eine Ware. Welche Ware wählen Sie und wie sieht das entsprechende Foto aus?

Die eigentliche Ware bildet in sozialen Medien aus meiner Sicht das Selbst. Die Produkte, mit denen sich Influencer*innen umgeben und für die sie werben, sind eher Beiwerk. Sie entstammen den Registern, mit denen man sie als Influencer*innen assoziiert. Müsste ich mich mit einem Selbstentwurf zur Ware machen, dann wahrscheinlich als Medienwissenschaftler, der für seine Forschung wirbt. Da ich mich derzeit viel mit VR-Filmen beschäftige, hätte ich auf dem Foto vielleicht eine VR-Brille auf. Ich überlasse es den Leser*innen zu entscheiden, wie authentisch ein solches Foto wäre. 

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