Heute beginnt das 30ste internationale Dokumentarfilmfestival München. Die dabei gezeigten Filme schenken künstlerische Einblicke in kleine und große Menschenleben aus aller Welt. Ein kleiner Einblick in das Programm.
von Magdalena Pistorius
Ein dreijähriges Mädchen, das die scharfkantigen Kiesel aus seinem kaputten Gummistiefel schüttelt, bevor es die nackten Füße wieder hineinschiebt. Eine Mutter, die sanft ihren kugelrunden Bauch streichelt – das Kind darin ist nicht ihr eigenes.
Ein Fischerssohn aus Bangladesch, der fern seiner Heimat als Holzfäller schuftet, weil die Netze seines Vaters leer bleiben. Die Anspannung im Gesicht eines 16-jährigen norwegischen Tänzers, der auf die Zusage einer großen Ballettschule hofft. Die Tränen einer jungen Inderin, als ihr Traum von einer Boxkarriere platzt, mit der sie ihre Zwangsverheiratung verhindern wollte. Die Erschöpfung in den Augen eines alten Kubaners, der stundenlang vergeblich versucht hat, an Schmerzmittel für einen schwer krebskranken Freund zu gelangen.
Es sind Momentaufnahmen wie diese, die mir seit zwei Jahren regelmäßig im Kopf herumschwirren. Grund dafür ist ein Event in München, das sich jedes Frühjahr durch schlichte Plakate in weiß und orange bemerkbar macht und das die Stadt für eine Woche in ein Fenster zur Welt verwandelt: beim internationalen Dokumentarfilmfestival München, kurz DOK.fest, bekommt man einen Einblick in bewegende Schicksale rund um den Globus. Auch ab kommendem Donnerstag werden wieder in einer Reihe von großen und kleinen Münchener Kinosälen keine Spielfilme laufen, sondern Dokus.
Das Festival in München ist das Größte seiner Art in ganz Deutschland. Über 100 Dokumentarfilme werden in seinem Rahmen jährlich ausgestrahlt. In diesem Jahr werden es sogar mehr als sonst sein: Das DOK.fest feiert sein 30stes Jubiläum mit 140 Filmen und lässt die Leinwände dafür auch drei Tage länger als üblich flimmern, vom 7. bis zum 17. Mai.
Zehn Tage, an denen es in München Großartiges zu sehen gibt. Das DOK.fest fördert Filmemacher, die gesellschaftliche Themen kritisch unter die Lupe nehmen – und ihre Werke mit künstlerischem Ausdruck sprechen lassen. Was dabei herauskommt, ist eine wunderbare Kombination aus Ästhetik und weltpolitischer Brisanz: Filme, die bewegen und zum Nachdenken anregen, ohne dabei rechthaberisch und belehrend zu wirken. Den Regisseuren gelingt dies auf denkbar einfache Weise – sie überlassen es den Bildern und Klängen, die sie einfangen, Geschichten zu erzählen. Oft sind es Geschichten von kleinen Leuten, die um das wenige, das sie haben, kämpfen müssen, Geschichten von Leid und Entbehrung, aber auch von großer Hoffnung und Momenten des Glücks. Es sind Geschichten aus den entlegensten Erdwinkeln und aus Großstädten, von Armen und Reichen, von resignierten Menschen und solchen, die für ihren Traum alles wagen wollen.
Ebenso vielfältig wie die Protagonisten dieser Dokus sind naturgemäß auch deren Themen. Mal geht es um das Leben von Bauern auf Kuba, mal um den täglichen Kampf um Selbstbestimmung, den Frauen in Indien zu führen haben, mal um Politiker, mal um Künstler, mal um Homosexuelle. Die Dokus haben in den vergangenen Jahren den Wiederaufbau nach dem japanischen Reaktorunglück und die wachsende Computerspielsucht in China ausgeleuchtet, sie haben die Bemühungen eines bayerisch-indischen Paares gezeigt, die traditionsbewussten Eltern von der ungewöhnlichen Liaison zu überzeugen.
Was jedoch alle Dokumentationen, trotz des Kaleidoskops an Eindrücken und Lebenswelten, eint, ist die ungeheure Kraft ihrer Darstellungen. Teils farbgewaltig, teils in Szenen von anrührender Schlichtheit und oft wunderbar einfühlsam musikalisch unterlegt, verleihen die Filme dem Weltgeschehen mehr Leben und Ausdruck, als es der Bericht in einer Zeitung je könnte. Manche Dokus haben gewöhnliche Spielfilmlänge, andere entführen den Zuschauer über viele Stunden in eine andere Welt. Doch egal, wie lange die Vorstellung dauern: sie bewegen, entlocken Wut und Mitgefühl, Trauer und Freude, manchmal auch tiefe Fassungslosigkeit. Am Ende jedenfalls lassen sie jeden reicher als vorher zurück: Indem sie den Nachrichten aus aller Welt Leben einflößen und das Schwarzweiß der Zeitungstexte mit Farbe und Vorstellungsvermögen füllen. Wer Glück hat, kann sich nach dem Film sogar noch mit dem Regisseur austauschen: Bei einigen Vorführungen sind die Filmemacher zu Gast und erzählen von ihren Anliegen und den Erfahrungen während der Drehs.
Damit Besucher des DOK.fests bei der großen Auswahl nicht den Überblick verlieren, sind die Filme in Kategorien eingeteilt. Die Reihe DOK.horizonte etwa zeigt Dokus über Länder, in denen instabile Verhältnisse herrschen, bei DOK.deutsch sieht man Filme aus dem deutschsprachigen Raum. DOK.music lädt zu Open Air-Vorstellungen ein, DOK.money porträtiert Filme über Finanzwirtschaft und Wertesysteme, im DOK.special wird gesellschaftliche Haltung gezeigt und bei DOK.international sind Dokus zu sehen, die im Wettbewerb um die begehrte internationale Dokumentarfilmauszeichnung Viktor stehen. Auch für jüngere Besucher ist etwas geboten: Die Reihe DOK.education bietet ein eigenes Programm für Familien und Jugendliche.