Online Philterchen

Vom Aufstieg der Aluhüte

Verschwörungstheorien genießen gerade große Beliebtheit – wie in jeder Krisenzeit. Dass sie auftauchen, ist nicht verwunderlich. Wer sie verbreitet, überrascht hingegen schon.

Symbolbild

Von Michael Kister

Informieren sich die Leute mehr denn je über das, was in der Welt passiert, oder wissen sie weniger denn je, und reden nur mehr? Es trifft wohl beides zu. Die Berichterstattung fokussiert sich beispiellos ausschließlich auf ein einziges Thema. Niemand kann ihm entkommen. Umso mehr zählt, woher ich meine Informationen nehme. Denn: Spätestens seit Donald Trump versucht das postfaktische Zeitalter, seine langen Finger durch unsere Türschlitze zu schieben.

Natürlich, dabei handelt es sich um ein großes, vieldebattiertes Fass, das ich hier nicht öffnen möchte. Es hat aber leider einen kleinen Riss, durch den sein Inhalt in meine unmittelbare Welt dringt. Leider, weil ich es nicht für möglich gehalten hätte. Meine Bekannten, Freund*innen und Verwandten wissen doch, welchen Informationen sie vertrauen können, habe ich mir gesagt.

Der erste Warnschuss erfolgte etwa Anfang März, in einer der notorischen WhatsApp-Gruppen, die das Unileben hervorbringt und die nach einiger Zeit überhaupt keinen konkreten Zweck mehr hat, da der zu Grunde liegende Kurs bereits vorüber ist. Und da: Eine Sprachnachricht taucht auf, in der eine Ärztin aus Österreich etwas Wichtiges zu Corona erzählt. Ibuprofen, das mache alles noch schlimmer. Dann entspann sich eine Diskussion, an deren Ende die Ultima Ratio stand: ein Gruppenaustritt. Natürlich stimmt das mit dem Ibuprofen nicht, die weiterleitende Person hat es bestimmt nur gut gemeint, dachte ich mir als mäßig interessierter Außenstehender.

Wenig später, Zoom und Houseparty sind mittlerweile neben das aus dem Desktop-Papierkorb auferstandene Skype getreten, um unser soziales Leben notzubeatmen. Ich hatte mich mit einer Gruppe von Freund*innen zum Videochat verabredet, wir unterhielten uns etwas. Das Thema? Das Virus, was sonst: Na, noch alle gesund bei dir? Ach, deine Mama konnte sich einfach so testen lassen? Echt jetzt, Trachten-Mundschutz? So weit, so gut. Bis einer uns anderen empfiehlt, sich doch mal dieses Video von Dr. So-und-so anzuschauen, der führe vor Augen, wie die Lage wirklich sei. In dem Moment quittierte jede*r die Neuigkeit mit gleichgültigem Brummen. Später, als ich dann mal reingeschaut habe, war ich geschockt. Nicht wegen des Inhalts des Videos. Da ging es um den üblichen Aluhut-Einheitsbrei. Was mich beunruhigte, war, wer es „empfohlen“ hatte.

Seitdem wurde es immer mehr derartige Links, mein persönlicher Favorit: ein Video, in dem Bilder von Kliniken, Kranken und Ärzten sich mit solchen von zerstörter und unberührter Natur abwechseln. Die Sprecherin ist – man glaubt es kaum – das Coronavirus selbst. Es erzählt uns Menschen, dass es das alles ja nur gut meine. Wir hätten ob unserer Verkommenheit und Misshandlung der Natur schon lange eine Zurechtweisung verdient. Plot twist: Die digitale Bußpredigerin hat einen intensiven schweizerischen Akzent.

Was auch immer ich mir von der modernen Sintflut zur Fortwaschung unserer Schandtaten erwartet habe, Schwyzerdütsch war es nicht. Ähnlich liebenswert (und deswegen ungeeignet als apokalyptischer Reiter) wie Schwyzerdütsch ist meine Großtante. Sie ist auch diejenige, die mir die Hoffnung in die Gesellschaft erhalten hat. Ich kenne niemanden, der unserer gegenwärtigen Lage mit so viel Schicksalsergebenheit entgegentritt. Eine Frau, die den Zweiten Weltkrieg durchlebt hat und sich trotzdem, vielleicht gerade deswegen, nicht von hetzerischen Parolen verunsichern lässt. So, dachte ich, wäre auch der Rest meiner Bekannten, ohne Weltkrieg natürlich.

 

Dieser Artikel ist Teil unseres Online-Schwerpunkts „Gemeinsam“. Aufgrund der Corona-Krise haben wir uns dazu entschieden, dieses Semester auf eine gedruckte Ausgabe zu verzichten, stattdessen veröffentlichen wir Artikel unter diesem Thema. Die Ausbreitung des Virus hat das Studierendenleben von heute auf morgen verändert: Wie wirkt sich das auf den Uni-Alltag aus? Wie auf Lehre und Leben? Und vor allem: Welche Lösungen im Umgang mit dem Virus werden an Hochschulen gefunden? Mit diesen Fragen beschäftigen wir uns.

Für dich vielleicht ebenfalls interessant...