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Nutze die Chance, die du nicht hast

Den Weg in ein sicheres Land geschafft und dann? Wer als junger Flüchtling Deutschland erreicht, ist in einem fremden Land mit einer fremden Sprache allein. Die Münchner SchlaU-Schule leistet mit ihrem Unterricht, was der Staat verweigert – und vermittelt mehr als nur Sprachkenntnisse.

Von Elisa Britzelmeier und Aida Yohannes

Als Heidar mit seiner kranken Mutter flieht, ist er 19. „Ich wollte einfach nur weg, egal wohin. Von Deutschland hatte ich da noch keine Vorstellung.“ Er macht sich Sorgen um seine Mutter und um seinen kleinen Bruder. Der lebt bereits in Deutschland, das weiß Heidar, aber nicht, wo.

Inzwischen ist Heidar 21 Jahre alt und besucht mit seinem jüngeren Bruder Reza, 19, die SchlaU– Schule in München. Die Brüder sitzen gemeinsam in einer Klasse, nach einem langen Weg von Afghanistan nach Europa haben sie sich wiedergefunden. Die Schule bietet ihnen das, was sie in ihrer Heimat nicht hatten: eine Chance auf Bildung. Afghanistan ist eines der Länder, in denen es ein Privileg ist, in die Schule gehen zu können. „Wir sind ohne Vater und mit sehr wenig Geld aufgewachsen. Da ist es so gut wie unmöglich, eine staatliche Schule zu besuchen“, sagt Heidar. Er musste schon früh für seine Familie sorgen und arbeiten, zeitweise hatte er drei Jobs gleichzeitig.

Was der eigentliche Auslöser war, Afghanistan zu verlassen, darüber spricht Heidar ungern. Er atmet aus und überlegt kurz. Es sei kompliziert. Copyright Trägerkreis Junge Flüchtlinge e.V._4Jedenfalls ist Reza zuerst geflohen, und es war Zufall, Glück oder Schicksal, dass Heidar auf dem Weg nach Deutschland durch Freunde und Bekannte erfuhr: Sein kleiner Bruder hat es nach München geschafft. Ein halbes Jahr später war die Familie wieder vereint, für die Mutter war es besonders schön, beide Kinder wieder bei sich zu haben. Was war, hat Heidar hinter sich gelassen. „Die Heimat ist für mich vorbei“, sagt er, viel lieber und mit Enthusiasmus erzählt er über seine Schule und ihre Projekte.

Ein Sack voll Sorgen

SchlaU, das steht für „Schulanaloger Unterricht“. Die Schule wurde im Jahr 2000 gegründet und richtet sich speziell an minderjährige Flüchtlinge ab 16 Jahren; einem Alter, in dem sie bis vor kurzem kein Recht mehr auf den Besuch einer regulären Schule hatten, auch wenn sie dringend lernen möchten. Inzwischen gilt nicht nur die reguläre Schulpflicht, sondern auch die Berufsschulpflicht für Flüchtlinge, und so ist die SchlaU-Schule als Berufsschule registriert. Seit 2004 ist sie staatlich anerkannt, heute besuchen etwa 200 Schüler hier den Unterricht. Sie lernen in Klassen mit unterschiedlichen Niveaus: von Lesen und Schreiben und dem Erlernen erster Deutschkenntnisse über die Vorbereitung für den Hauptschulabschluss und für weiterführende Schulen. Somit öffnet sich für die Schüler eine Tür in ein selbständiges Leben mit der Möglichkeit auf Weiterbildung oder einen Beruf. Die Schule will mehr als reines Faktenwissen unterrichten. Sie will Pünktlichkeit und Regeln vermitteln, vor allem aber den jungen Flüchtlingen Orientierung bieten.

Copyright Trägerkreis Junge Flüchtlinge e.V._3„Die Schüler haben einen Sack voll Sorgen dabei“, sagt Roland Waegner. Mit seinem grünen T-Shirt und dem grauen Kapuzenpulli wirkt er wie der typische Lieblingslehrer, man könnte ihn sich gut auf einem Skateboard oder mit einer Gitarre in der Hand vorstellen. Der 41-Jährige unterrichtet an der SchlaU-Schule Mathe und Englisch. Zusätzlich zu den Lehrern arbeiten hier fünf Sozialpädagogen und eine Schulpsychologin. Doch auch Waegner vermittelt mehr als Lernstoff. Ein Schüler spricht ihn auf dem Gang an. Er habe Angst, bei der anstehenden Prüfung schlecht abzuschneiden, er habe gerade große Probleme. In solchen Situationen zeigt Waegner Verständnis. Er bohrt nicht nach, sagt nur: „Alles in Ordnung, Hauptsache, du schreibst mit, vielleicht ist es ja trotzdem gut. Und wenn nicht, dann ist das okay.“

Die Flüchtlinge zu stärken, ihnen Selbstbewusstsein zu verleihen, das ist das Ziel der SchlaU-Schule. „Nutze die Chance, die du angeblich hier in diesem Land nicht hast; wir helfen dir dabei!“, so formuliert Schulleiter und -gründer Michael Stenger das Motto. Alle hier duzen sich. Die Klassen sind nicht nummeriert, sondern nach den Namen der jeweiligen Klassenlehrer benannt, gut ablesbar an den Schildern an den Zimmertüren. An den bunte bemalten Wänden auf dem Gang hängen Fotos. Schüler und Lehrer gleichermaßen sind darauf zu sehen. Sie beantworten mit ihrem Gesichtsausdruck naheliegende Fragen wie „Wie ist München?“ und andere, die einfach Spaß machen sollen und sie nicht auf ihre Vergangenheit reduzieren, zum Beispiel „Was machst du, wenn jemand deine Zahnbürste benutzt?“

Heidar und Reza gehen gerne in die Schule. Den morgendlichen Kampf gegen den Wecker kennen sie nicht, sie stehen fröhlich auf und wollen Neues lernen. Die Schule bezeichnen sie als ihr zweites Zuhause. Denn die Lehrer und Helfer der SchlaU-Schule waren es, die sie mit offenen Armen empfangen haben. Heidar hat nach einem Jahr Unterricht seinen qualifizierenden Hauptschulabschluss bestanden. „Das habe ich meinen Lehrern zu verdanken“, sagt Heidar. „Sie machen mir Mut.“ Er hat seine Prüfungsangst hinter sich gelassen und ist zuversichtlich, auch die mittlere Reife zu schaffen.

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