Während meines Studiums war ich genau einmal mutig. Sagte zumindest der Dozent. Um mir eine Seminararbeit zurückzugeben, samt Note, hatte er mich eigens in sein Büro zitiert. Draußen war Winter, drinnen roch es nach Heizung.
Zuvor kam das übliche Dozenten-Bingo: “Natürlich haben Sie die Sekundärliteratur der letzten 25 Jahre nicht drin”, sagte der Mann. “Da gibt es ja mittlerweile ganz neue Erkenntnisse.” Auch die Argumentation gehe wahrscheinlich nicht auf. Strukturiert sei die Arbeit vollkommen willkürlich und an vielen Stellen ein bisschen holprig: “Da wusste ich jetzt nicht, worauf Sie hinauswollen.” Aber dann kam es: “Davon abgesehen… joa… ich fand’s eigentlich ganz mutig.”
Mutig, weil das Ganze von vornherein aussichtslos gewesen war. Der österreichischer Autor Gerhard Rühm hatte einmal die Idee gehabt, ein totales Buch zu schreiben, soll heißen: Eines, das man nicht nur mit Augen und Hirn liest, sondern mit allen Sinnen. Eines, in dem das Parfüm einer eleganten Dame beschrieben wird und man das dann auch riecht. Eines, das schmeckt, wenn man an der Seite knabbert, und dessen Seiten aus Jeans-Stoff sind, wenn der Protagonist Jeans trägt. Meine originelle Herangehensweise war: Ist das möglich? Kann es sowas geben? Also so in echt?
Man ahnt ja, wie dann das Ergebnis ausfiel. Ziemlich banal war es, nämlich: Äh… nein. Also theoretisch natürlich schon. Theoretisch geht ja immer alles. Aber nicht in der Praxis. Oder vielleicht doch? (Nein.) Unter bestimmten Voraussetzungen? (Hm – nein.) Wenn man Foucault, Kant und Georg Lukács wild zusammenmixt und dann in der Arbeit anwendet? (Ah ok, ja dann… nein.) Wenn man lieb bittet? (Dann schon. Oder eben nicht.) Ah ok, ja dann… äh, nein.
Und das sollte dann mutig sein? Bei Mut unter Studenten denkt man ja erst mal an andere Menschen. Sophie Scholl zum Beispiel. Da ist der Fall klar. Hans Scholl, natürlich. Jan Palach und Jan Zajíc, zwei tschechische Studenten, die sich 1969 verbrannten – Stichwort “Prager Frühling.” Georg Büchner! Leute, die sich für etwas eingesetzt haben. Rudi Dutschke. Benno Ohnesorg. Und und und.
Und unpolitisch geht übrigens auch: In Passau, lese ich, haben sich mutige Studenten auf einen Ladendieb gestürzt. Der hatte wertvolle Uhren aus der Vitrine eines Juweliers gestohlen, beziehungsweise – er hat es versucht. Weit kam er nicht. Für diesen Mut gab es Urkunden und “Geldzuwendungen” vom Passauer Polizeidirektor, dazu noch einen Gutschein vom Juwelier – zu Recht, wenn man mich fragt.
Und wo reihe ich mich da jetzt ein? Bin ich außen vor? Oder doch irgendwo dazwischen?
Irgendwo ist es auch egal. Ich brauche keinen Ruhm dieser Welt. Im Zweifelsfall kann ich mir immer noch mein eigenes totales Buch schreiben (bauen? weben? zimmern?) und darin wohnen. Ich weiß, dass es geht. Ich hab da so eine geisteswissenschaftliche Studie in der Schublade. Wasserdicht ist die. Wasserdicht. Neue Erkenntnisse, my ass.