Interview

„Man sollte als Student nicht um Erinnerungskultur herumkommen”

Die Erinnerung ist umkämpft, das zeigt sich nicht erst seit Alexander Gaulands Ausspruch von der Zeit des Nationalsozialismus als „Vogelschiss” der deutschen Geschichte. Panton vom Studentischen Verein zur Förderung der Erinnerungskultur (SVFE) erklärt im Gespräch mit philtrat, wie sich Studierende in den Erinnerungsdiskurs einbringen können – und warum die studentische Initiative von der LMU enttäuscht ist.

Das Gespräch führte Maxim Nägele

In der dunklen Eingangshalle der VWL-Fakultät sucht Panton nach Spuren. Mit seiner Handytaschenlampe findet er einen blassen viereckigen Abdruck. Hier, vermutet er, könnte einmal ein Schild mit einem Hakenkreuz gehangen haben. Denn das heutige LMU-Institut in der Ludwigstraße hieß ursprünglich „Haus des deutschen Rechts“ und sollte als Zentrum der nationalsozialistischen Rechtswissenschaft dem Staatsapparat der NS-Diktatur dienen.

Einen Hinweis auf diese bedeutende Geschichte gibt es vor Ort bis heute nicht. Aber Panton Schulz-Isenbeck, 21, wehrt sich gegen das Vergessen. Er ist der zweite Vorstand des Studentischen Vereins zur Förderung von Erinnerungskultur (SVFE), der seit dem Wintersemester eine neue Plattform für die Auseinandersetzung mit deutscher Zeitgeschichte bietet. Mit seiner hellen Hornbrille sieht man Panton das Doppelstudium, Kunstgeschichte und Jura, schon etwas an. Doch wenn er über die Bedeutung, die Lücken und die Zukunft der deutschen Erinnerung spricht, blitzt ein großer Tatendrang aus seinen Augen.

Das selbsterklärte Motto vom SVFE ist „Students remember“. Was bedeutet Erinnern für dich?

Foto: Eszter Budai

Panton Schulz-Isenbeck: Ich finde Erinnern als Begriff ist etwas ganz Persönliches und Emotionales. Normalerweise erinnern wir uns an Sachen aus der Vergangenheit, die uns persönlich betroffen haben. In der politischen Dimension, gesamtgesellschaftlich, meint der Begriff Erinnerungskultur, die Auseinandersetzung und das immer wieder Vergegenwärtigen von vergangenen Ereignissen. Es ist auf der einen Seite das faktische Ereignis, dem die Erinnerung gilt und das man in den historischen Kontext einordnen muss und auf der anderen Seite ist es das Persönliche, das man von dem Ereignis erinnert oder als Nachgeborener damit verbindet. Diese beiden Elemente, das Persönliche und das Politische, zeichnen die Erinnerungskultur aus und die muss man auch zusammen denken, wenn man über das Erinnern nachdenkt.

In vielen Projekten des Vereins präsentiert und diskutiert ihr zeitgeschichtliche Filme und Bücher. Wie wichtig ist die Kunst für die Erinnerungskultur?

Als Verein glauben wir, dass Kunst ein Medium sein kann, über das die Kombination dieser beiden Elemente gelingen kann. Das Tolle an Kunst ist, dass es jeden in einer anderen Weise berührt und beschäftigt. Wenn man ein Kunstwerk sieht, egal ob es ein Buch, ein Film oder ein Bild ist, dann löst das bei jedem einen anderen Gedanken aus und auch eine andere Emotion. Das Gespräch über diese Gedanken und Emotionen, da kommen oft spannende neue Erkenntnisse heraus. Das ist der Wert von Kunst insgesamt und das kann man auch für die Erinnerungskultur nutzbar machen.

Für mich – ich studiere Kunstgeschichte – ist es ein besonderes Anliegen im Verein, dass wir Kunst immer wieder einbringen, weil ich an das Vermittlungspotential von Kunst glaube. Außerdem ist es manchmal niederschwelliger, über einen Ausschnitt von einem Buch zu sprechen oder einen Film anzuschauen, als wenn man sich mit schwierigen historischen Traktaten beschäftigt.

Wie versucht ihr konkret mit dem zeitlichen Wandel der Erinnerungskultur umzugehen?

Man kann die Zeit nicht anhalten, dass die historischen Ergebnisse weiter weg sind, kann man nicht ändern. Gerade durch das Sterben der Zeitzeugen ist die Übersetzung von erinnerungskulturellen Botschaften und Inhalten in neue Medien ein ganz wesentlicher Teil. Wir im Verein beschäftigen uns deswegen wie gesagt viel mit Kunst, wir schauen gemeinsam Filme, aber auch die Sozialen Medien sind ein Vehikel, diese Botschaften in eine zunehmend digitale Gesellschaft ohne Zeitzeugen zu bringen.  Wir arbeiten eng mit der jüdischen Gemeinde hier in München zusammen, wir machen jetzt im Sommersemester mehrere Veranstaltungen mit Zeitzeugen und Autoren wie Ahmad Mansour, der sich mit Antisemitismus und den Herausforderungen von Erinnerungskultur in einer multikulturellen Gesellschaft beschäftigt.

Gleichzeitig wissen wir auch, dass wir in all diesen Themen nicht das Rad neu erfinden können. Wir haben gute Ideen, wir kriegen auch viel Resonanz über Social Media, aber dass wir als relativ kleiner Verein die gesamte Erinnerungskultur in Deutschland verändern, ist recht unwahrscheinlich. Aber wir leisten einen Beitrag.

Haben Studierende einen besonderen Auftrag, eine besondere Rolle für die deutsche Erinnerungskultur?

Einen Auftrag auf jeden Fall, ob der Auftrag besonders ist, weiß ich nicht. Wir haben historisch diese besondere Schuld auf uns geladen und wir sind heute als Individuen zwar nicht mehr schuldig, aber wir haben doch die Verantwortung für den Umgang mit der Geschichte dieses Landes. Wenn man in Deutschland studiert, übrigens auch unabhängig davon, ob man deutscher Staatsbürger ist oder nicht, sollte es dazu gehören, dass man sich mit diesen Sachen beschäftigt. Man sollte um dieses Thema als Student in Deutschland nicht herumkommen können.

Deswegen muss es Veranstaltungsangebote für die geben, die sich damit auseinandersetzen möchten. Als Studierender gehört man zu einer privilegierten Bubble. Es gehören viele Rahmenbedingungen dazu, dass einem das ermöglicht wird. Und wenn man diese Möglichkeit erhält, sich so  intensiv mit Themen zu beschäftigen, dann hat man auch eine gewisse Verantwortung, das in die Gesellschaft rauszutragen und die Ergebnisse des eigenen Nachdenkens in den Diskurs einzubringen. In welcher Form auch immer. Einfach im Gespräch mit Familie, mit Freunden, dieses Thema ansprechen und mit in die Gesellschaft bringen.

Der Verein möchte sich neben der Erinnerung an die NS-Verbrechen auch mit der DDR und dem deutschen Kolonialismus auseinandersetzen. Gibt es in der deutschen Erinnerungskultur noch Aufholbedarf? 

Jedenfalls, an allen Stellen. In mindestens zweierlei Hinsicht. Einmal inhaltlich. Über die Shoah wurde sehr viel erzählt, die Shoah ist viel erforscht, wir wissen wahnsinnig viel darüber, aber wir wissen noch lange nicht alles. Es gibt an vielen Stellen noch Klärungsbedarf. Auch bei der Frage, wie die Kontinuitäten wirken. Erinnern ist ja nicht nur Erinnern an die historischen Ereignisse, sondern auch die Frage „Wie wird erinnert?“. Wie wurde in den 50er Jahren nicht erinnert, in den 60er Jahren langsam erinnert, in den 70er Jahren schneller, in den 1980ern, 1990ern? Die Geschichte der Erinnerung ist auch Teil der Erinnerungskultur.

In Richtung Kolonialismus, in Richtung DDR-Geschichte, ist in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt. Ich glaube, dass zum Beispiel, relativ wenige Leute schon mal von Lothar von Trotha gehört haben, der 1904 in Deutsch-Südwest-Afrika diesen schrecklichen Genozid an den Herero und Nama verübt hat [Anm. d. Red.: Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts]. Die ganze Frage der Restitution von Kulturgut ist auch ein Thema der Erinnerungskultur. Und natürlich die Stasi-Vergangenheit von vielen Menschen, die ganze DDR-Diktatur, das sind Themen, wo auf jeden Fall Aufholbedarf besteht. Also sowohl in der Tiefe als auch in der Breite.

Wie geht ihr mit aktuellem Politikgeschehen um, wie zum Beispiel den Angriffen der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober und dem aktuellen Konflikt im Gazastreifen?

Also in die Liste von relevantem politischem Geschehen aufnehmen, kann man auch den enormen Anstieg antisemitischer Straftaten und das Treffen in Potsdam von Rechtsradikalen und Rechtsextremen. Das sind alles Themen, die wir im Verein kontrovers diskutieren, denen wir uns auch stellen. Erinnerungskultur ist ein genuin politisches Thema. Immer wenn wir über Erinnerungskultur sprechen, sprechen wir über das Fundament unserer Gesellschaftsordnung hier in Deutschland, den Gründungskonsens „Nie wieder“. Gleichzeitig versuchen wir als Verein, uns aus parteipolitischen Diskussionen herauszuhalten. Wir positionieren uns nicht näher zu einer demokratischen Partei als zu einer anderen. Wir sehen die AfD als den parlamentarischen Arm des deutschen Rechtsextremismus. Wir sehen mit großer Sorge die geschichtsrevisionistische Propaganda dieser Partei. Wir wollen keine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad, wie sie Björn Höcke gefordert hat.

Bezüglich des Konflikts in Israel und Gaza sehen wir die antisemitischen Straftaten und vor allem das Geschichtsrevisionistische, was damit einhergeht, als sehr problematisch. Gleichzeitig ist es als Verein nicht unsere Aufgabe, diesen Konflikt zu lösen. Und es ist auch nicht unsere Aufgabe, eine zumindest formal demokratisch-legitimierte Partei insgesamt zu diskreditieren. Wir stellen uns aber ganz bewusst gegen geschichtsrevisionistische Ansätze, wie gegen Antisemitismus und menschenverachtenden Äußerungen jeglicher Art. Wir wollen Aufklärung, wir wollen kritische Diskussion.

Wie war die bisherige Resonanz auf euren Verein?

Insgesamt sehr positiv. Manchmal ist es etwas enttäuschend, weil Menschen ganz stark ihre Unterstützung ankündigen und dann kommt relativ wenig. Was man tatsächlich sagen muss, von Seiten der LMU haben wir nicht die Unterstützung erfahren, wie wir sie uns gewünscht hätten. Gerade was die Kooperationsoffenheit angeht, in Bezug auf Räumlichkeiten der Universität. Sehr zurückhaltend. Das hat uns sehr enttäuscht. Wir sehen uns schon primär als Studenten der LMU und würden natürlich gerne in Kooperation mit der Uni Veranstaltungen organisieren.

Aber von Seiten der jüdischen Gemeinde, von Seiten unterschiedlicher Museen, historischer Institutionen und Professoren haben wir viel Positives gehört. Auch von den Studierenden. Manche werden sofort Mitglied und machen gleich drei Veranstaltungen im ersten Monat, andere folgen uns zumindest auf Social Media. Wir freuen uns über jede Art von Interaktion.

Auf eurem offiziellen Instagram-Account betont ihr, dass eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte auch „Hoffnung und Mut erfordert. Woraus zieht ihr diese Hoffnung und diesen Mut?

Ich glaube, das kann ich nur persönlich beantworten. Ich muss optimistisch denken. Denn wenn ich nicht so denke, dann habe ich nichts, wofür ich arbeiten kann. Wenn ich glauben würde, dass das sowieso alles nichts bringt und dass wir sowieso in einen fremdenfeindlichen Staat stolpern, dem man nichts entgegensetzen könnte, dann müsste man die ganze Initiative nicht machen. Optimismus muss ich haben, damit ich daran arbeiten kann.

Hoffnung geben uns die positive Resonanz und die Demonstrationen gegen Rechts. Das war ein großes Hoffnungssignal, als hier in München über 200.000 Menschen auf den Straßen unterwegs waren. Ich war dabei und hatte Gänsehaut. Mut, woher nimmt man Mut? Ich glaube, so mutig muss man gar nicht sein. Wenn man das alleine machen würde, müsste man ganz viel Mut haben. Aber wenn man sich zusammentut mit Leuten und die Stimmen vereinigt, dann fällt es einem leichter, an die Öffentlichkeit zu treten. Man ist eben nicht alleine mit diesem Thema, sondern es gibt Foren, es gibt Menschen, die sich für diese Sachen einsetzen. Und in der Gruppe ist man immer stärker und dann braucht man gar nicht mehr so viel Mut.

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