In unserer „So war das sicher nicht gemeint“-Reihe nehmen wir uns namhafter Gedichte der Weltliteratur wie auch wichtiger Werke aus der bildenden Kunst an und interpretieren sie, auf dass unseren alten Deutschlehrer*innen die Haare zu Berge stehen mögen. Diesmal haben wir das Gedicht „In der Nacht“ des weitgehend in Vergessenheit geratenen Dichters Julius Havemann nach allen Regeln der Kunst analysiert. Nur leider haben wir da was missverstanden…
In der Nacht von Julius Havemann (1866–1932)
Oft in der Nacht,
wenn der Mond auf mein Kissen scheint,
lehnt es sich sacht
mir ans Ohr und weint.
Und ich kann mich nicht rühren und kann nicht fragen:
Was kommst du mir klagen?
Oft in der Nacht
lieg’ ich in Stummheit und dunklem Bluten
tief verwacht
in meines Herzens roten Fluten
und ist in den Weiten nicht eine Hand,
die mich zöge an ein festes Land.
Oft in der Nacht
starr’ ich hinauf in das ewige Schweigen
und sehe die Macht
der Götter entthront ins Dunkel steigen;
und aus Nichts beginn’ ich in Lieben und Lügen
die Welt zu fügen.
Wer genau hinsieht, kann zwischen den Versen des Gedichts „In der Nacht“ dunklen Geheimnissen längst vergangener Verbrechen nachspüren, handelt es doch von den nächtlichen Gedanken eines Serienmörders. Eines Mannes, den seine Opfer bis hinein in die Welt der Träume verfolgen.
Im Gedicht finden sich zahlreiche Hinweise auf die mysteriöse Identität des lyrischen Ichs, des Mörders. Sein dunkles Verlangen, bezeichnet als „dunkle[s] Bluten“ (V. 8), „[s]eines Herzens rote[] Fluten“ (V. 10), die symbolhaft für die Liebe stehen, jedoch durch die Farbe Rot im Zusammenhang mit dem Wort „Fluten“ eine ungeheure Menge an Blut greifbar machen – solche Hinweise lassen nur einen Schluss zu: Es handelt sich bei unserer blutrünstigen Bestie nicht etwa um einen handelsüblichen Mörder, sondern um einen Vampir. Das Entthronen der Götter (V. 16): ebenfalls ein Hinweis auf seine Abstammung von den Wesen der Nacht. Ohne Chance auf Erlösung, denn was hat das seelenlose Wesen nach dem Tode zu erwarten? „Nichts“ (V. 17), es ist ja unsterblich.
Fast schon ironisch erscheinen die Verse 11 und 12: „Ist dort nicht eine Hand, / die mich zöge an ein festes Land.“ Dass das Wort „eine“ betont ist, deutet auf ein Charakteristikum des Mörders hin. Er besitzt nicht zwei, sondern nur eine Hand. Ein Wink, der den Leser dazu verführen soll, weiter in die Kriminalgeschichte einzutauchen, jedoch nicht die genaue Identität des Mörders enthüllt. Die Tatsache, dass sich der Anfangsvers „Oft in der Nacht“ am Beginn jeder Strophe wiederholt, deutet auf die unzähligen Male hin, die das lyrische Ich mordete. Jedes Opfer beschert ihm nach seinem Tod Albträume, ein zugegeben sehr unvampirischer Charakterzug, welcher jedoch vor dem Hintergrund der Unvollständigkeit des Mörders als einarmige Person eine logische Konsequenz darstellt. Die dem Perfektionismus verfallene Vampirwelt, in der, wie wir aus der einschlägigen Fachliteratur von Stephenie Meyer und anderen wissen, alle unsterblich schön sind, wohlgeformt und perfekte Haut besitzen, hat insgesamt zu einer starken Sexualisierung der Spezies geführt. Da sind keine Unvollkommenheiten gestattet und so muss das Leben als einarmiger Vampir wie auch in der Menschenwelt von Diskriminierung und Abweisung geprägt sein, welche selbst in einem emotionslosen Unsterblichen trübsinnige Gedanken wecken kann.
Auch das Sexualleben leidet bei unserem Mörder, was, wie gesagt, für einen Vampir eher artuntypisch erscheint. Der Hinweis auf das „Lieben und Lügen“ in Vers 17: Die zwei in einer Alliteration verbundenen Begriffe deuten ganz klar auf falsche, nicht echte Liebe hin. Eine solche Form der Liebe ist es, die das lyrische Ich von seinen Opfern erhält. Vielleicht liegt hier das Motiv für sein Morden. Wünscht es sich doch nichts sehnlicher als die wahre Liebe, die ihm aber aufgrund seiner Gestalt nie zuteil werden wird.
Unbefriedigt und unfähig, aus dieser endlosen Schleife an Morden und Albträumen zu entkommen, ist der Vampir dazu verdammt, weiter zu töten, besitzt jedoch nicht wie seine Artgenossen die Möglichkeit, seine Taten ohne Reue zu vergessen.
Doch was verrät das Werk über seinen Schöpfer? Zwar soll man sich bekanntlich davor hüten, das lyrische Ich mit dem Autor gleichzusetzen, wenn man es aber doch wagt, ja dann drängt sich bei der Interpretation die Frage auf, ob Havemann in seinen Versen nicht einen Hinweis auf seine eigentliche Identität als einarmiger Vampir verbirgt.