Queere Menschen blicken häufig aus einer anderen Perspektive auf Dinge, auch auf Literatur. Wie dieses queere Auge und die Wahrnehmung von potentiell Queeren Geschichten zusammenhängen und warum das passiert, will ich genauer beleuchten.
Von Mateo Micheler
Ich spreche nicht von der Makeover-Serie – das ist wohl das Erste, was einem zu dem Thema in den Kopf schießt – aber es besteht zumindest ein Zusammenhang. Queer Eye for the Straight Guy ist der volle Name der Originalserie aus den 2000ern. Was damit gemeint ist, ist, dass eine queere Person einen anderen Blick auf Dinge haben kann – in der Serie geben fünf queere Leute einer heterosexuellen Person eine andere Perspektive. So pauschalisieren kann man das nicht immer, aber es ist doch etwas dran, an diesem „queeren Auge“.
Mir und meinen queeren Freund*innen fällt das am ehesten auf – und es wird am ehesten zum Thema – wenn wir Bücher lesen oder Serien anschauen. Wir springen auf das an, was wir als Queercoding wahrnehmen – auch wenn es das gar nicht ist, beziehungsweise nicht von den Autor*innen beabsichtigt wurde. Queercoding heißt, dass man einen Charakter ohne explizite Erwähnung von deren Geschlechtsidentität oder Sexualität als queer wahrnimmt. (Eine Extremform davon nennt man Queerbaiting. Beides bringt große Problematiken mit sich, aber das darf ein andermal thematisiert werden.)
Er wird schlicht als „feminin“ beschrieben.
Als Literaturwissenschaftler war es für mich naheliegend, dass ich das früher oder später genauer unter die Lupe nehme. Was mich zu diesem Artikel bewogen hat, werde ich auch als Beispiel hernehmen: Frank Herberts Dune. Der neue Film war die letzten Monate in aller Munde, die Buchvorlage ist von 1965. Einer der männlichen Charaktere wurde an mehreren Stellen als „feminin“ beschrieben. Natürlich kann auch ein Mann repräsentieren, was von der Gesellschaft weitgehend als „feminin“ wahrgenommen wird. Aber wenn ein Mann, wie im Fall von Dune, in einem Buch von vor fast 60 Jahren so beschrieben wird, guckt sich das queere Auge das gleich zweimal an. Zumal kein anderer männlicher Charakter in dem Buch als „feminin“ beschrieben wird.Wir kennen unsere Pappenheimer. (Damit meine ich sowohl die queeren Charaktere als auch die Autor*innen, die Stereotypen nutzen, um ihre Charaktere zu queercoden.) Oder das denken wir zumindest. Es bleibt bei Dune nämlich beim erwähnten Charakter dabei: Er wird schlicht als „feminin“ beschrieben.
Als ich mir also beim Lesen von Dune Gedanken um Queercoding gemacht habe, kam mir ein weiteres Beispiel in den Sinn, welches mir seit Jahren immer wieder durch den Kopf geistert: Das Lächeln der Fortuna von Rebecca Gablé, von 1997. Der Hauptcharakter hat mehrere Söhne, von denen einer explizit als queer beschrieben wird, ein anderer jedoch nicht. Letzterer war jedoch für mich explizit queercoded, er und sein bester Freund. Die Autorin arbeitet mit Sprache: „Sie hielten sich eng umschlungen wie ein Paar.“ Oder sie beschreibt, wie der eine Charakter im Schoß des anderen liegt, während er krank und verletzt ist. (Ich kann förmlich sehen, wie meine Queers große Augen machen.) Jedoch passiert nichts. Die beiden bleiben „einfach nur“ Freunde. Natürlich kann man sich in einer platonischen Beziehung eng umarmen oder mit Körperkontakt trösten, etc. (Das ist besonders dahingehend, wie Männer in der Gesellschaft gesehen werden nochmal ein riesiges Thema für sich.) Deswegen habe ich nach Gründen gesucht, warum ich ausgerechnet diese beiden Charaktere als queer wahrgenommen habe. Letztendlich bin ich darauf gekommen, dass es daran gelegen haben muss, dass erstens keine andere gleichgeschlechtliche Freundschaft in dem Roman auf diese Art und Weise dargestellt wurde und dass zweitens hauptsächlich Liebespaare in einem solchen oder ähnlichen Umgang miteinander beschrieben wurden. Wenn ich mir den Rest der Erzählung anschaue, dann gehe ich auch hier davon aus, dass es nicht beabsichtigt war – dass „nur“ mein queeres Auge es so gelesen hat.
Wir sprechen nicht über Destiel. (Noch nicht.)
Diese Art von Queercoding reicht bis in mittelalterliche Geschichten hinein, die auch in der Forschung bewusst mit einem queeren Auge gelesen werden. Ob sie nun absichtlich queercoded wurden oder nicht, das lässt sich nicht sicher überprüfen, aber gerade als queere Person möchte man es manchen Autor*innen von früher doch zugestehen. (Meine Mittelalter-Queers und alle, die es sonst interessiert, dürfen sich mit wärmster Empfehlung einmal die Njáls saga zu Gemüte führen.) Mittlerweile werden viele Charakter-Ensembles um einiges nuancierter geschrieben. Da wird nichts gecoded oder gebaitet, die Queers sind explizit queer. Man darf dem queeren Auge eine Pause gönnen und die Offensichtlichkeit genießen.
PS: Die, die sich viel mit der Serien- und Fandom-Kultur der letzten Jahre beschäftigt haben, haben sich wahrscheinlich gefragt, warum ich nicht das offensichtlichste Beispiel hierfür verwendet habe – aber wir sprechen nicht über Destiel. (Noch nicht.)
Unter #QueerOnCampus schreiben Studierende des Queer-Referat der Studierendenvertretung der LMU über LGBTQ+ und andere Themen, die queere Personen im Zusammenhang mit München und dem Studium betreffen. Für die Inhalte sind allein die jeweiligen Autor*innen verantwortlich. Alle Beiträge der Serie hier nachlesen.