Filmreihe

„Alles Steht Kopf 2“ – das Spektakel im Selbst

Vor neun Jahren kam Pixars „Alles Steht Kopfin die Kinos und fand sowohl bei Fans des Filmstudios als auch bei Kritiker*innen sofort massiven Anklang. Nun geht das Franchise in die zweite Runde – und reicht in seinen Stärken fast an den ersten Film heran. Fast.

Von Pavel Fridrikhs; Bilder: © The Walt Disney Company Germany GmbH

2015 schien Pixar zum ersten Mal in seiner Geschichte auf dem Holzweg zu sein. Die goldene Ära des Animationsfilmstudios schien vorbei, als die Filmemacher anfingen, enttäuschende Sequels an mittelmäßige Neuschöpfungen zu reihen und damit seinen bis dato hervorragenden Ruf zu sabotieren. Wo zuvor jeder Film mindestens mit gut zu bewerten war, sank die Messlatte auf das Niveau eines Blue Sky Studios herab. Hatte Pixar etwa das Filmemachen verlernt? Nein, denn mit dieser Aussage würde man Regisseur*innen wie Pete Docter und Filmen wie Alles Steht KopfUnrecht tun. Die Kombi aus einem ebenso simplen wie genialen Konzept und dem für Pixar charakteristischen emotionalen Tiefgang war und ist der Schlüssel zum Erfolg: Der Film eroberte das Publikum aller Altersklassen und reihte sich rasch unter den Klassikern des Filmstudios ein. Solcher Erfolg steht in der Filmwelt heutzutage aber fast immer für etwas, das zurecht kritisch beäugt wird: den Druck, aus einem Kunstwerk ein Franchise zu machen und ihm Sequels folgen zu lassen.

Ein durchschlagender Erfolg

2024 ist es soweit, „Alles Steht Kopf 2“ betritt die Weltbühne – und wird mit einem aktuellen Einspielergebnis von über 1,5 Milliarden Dollar noch erfolgreicher als der erste Teil. Überraschend ist das nicht, denn kaum eine Filmprämisse hat sich jemals so sehr für ein Sequel geeignet: Die menschliche Hauptfigur Riley wird im Verlauf der beiden Filme älter und damit entwickeln sich auch ihre Emotionen weiter. Pixar kann hier aus dem zeitlosen Thema des Erwachsenwerdens schöpfen und Unmengen an Eindrücken und Momenten verarbeiten, mit denen nahezu alle von uns persönlich konfrontiert sind oder waren. Es ist also ein Sequel mit Daseinsberechtigung. Ein Sequel, das die Zuschauer*innen auch sehen möchten. 

Die Handlung spielt sich, wie schon im ersten Teil, auf zwei Ebenen ab: Auf der menschlichen Ebene findet Riley in der Schule zwei enge Freundinnen, mit denen sie auch zusammen erfolgreich an Eishockeyturnieren teilnimmt. Ein berühmter Scout wird auf die drei aufmerksam und lädt sie für ein Wochenende in ein Camp ein, wo sie sich beweisen müssen. Im selben Moment kommt Riley in ihre Teenagerjahre und muss sich mit neuen Emotionen herumschlagen, die mit den bisherigen Gefühlen (Freude, Wut, Trauer, Ekel und Angst) noch nicht abgestimmt sind. Auf dieser inneren Ebene kommt es zu einem Machtkampf zwischen den Emotionen, die Riley schon seit ihrer Kindheit begleitet haben, und den Neuankömmlingen. Die zentrale Figur unter Letzteren ist „Zweifel“, die auch die unzähligen Werbeplakate für den Film zieren durfte. Sie sieht aus, wie man sich die Emotion auch vorstellen würde: klein, mit verlegenen Gesten und einer chaotischen Frisur, die wie der unsichere Versuch des Selbstausdrucks wirkt. 

Zu Beginn begrüßen Zweifel (abgebildet) und die anderen neuen Emotionen die bisherige Truppe noch enthusiastisch, aber dann bringen sie rasch Änderungen rein.

Die Figur steht nicht ohne Grund im Fokus, denn sie lenkt Riley zunehmend nach ihren Gunsten und entwickelt sich zum regelrechten Widersacher. Im Eishockeycamp manifestiert sich das dadurch, dass Riley auf ihr Idol trifft und sich diesem gegenüber beweisen möchte, und zwar auf Kosten ihrer bisherigen Freundschaften und ihrer psychischen Gesundheit. Die dadurch entstehenden Dynamiken der ganzen Emotionen untereinander – ob neu oder alt – sind das Herzstück des Films und noch genauso natürlich, wie sie es im ersten Teil waren. Obwohl diese Figuren nicht gegensätzlicher hätten sein können, ist das Writing von „Alles Steht Kopf 2“ so gut, dass die eingespielten Player wieder mühelos harmonieren. Nur brauchen die beiden​ „Lager“ Zeit, um das auch untereinander zu schaffen.

Mehr Breite, weniger Tiefe

Die größere Cast des Films birgt aber auch die Gefahr, dass der Fokus verschwimmen kann und das tut er in diesem Film leider wesentlich mehr als im ersten. Schließlich war dort das Rampenlicht zum Großteil auf Freude und Trauer gelenkt, die versehentlich im Langzeitgedächtnis landen und zur Kommandozentrale zurück müssen, damit Riley die beiden Emotionen wieder empfinden kann. Das gab beiden die Möglichkeit, ihre Beziehung auszufleischen und den Zuschauer*innen so zu zeigen, dass auch Trauer ein wichtiges Gefühl ist, das wir nicht unterdrücken sollen. Das eheste Äquivalent dazu im zweiten Film sind Freude und Zweifel, zwischen denen sich zum Ende des Films hin überraschende und doch klare Gemeinsamkeiten herauskristallisieren. Der Konflikt zwischen beiden löst sich allerdings erst ganz am Ende des Films auf, weswegen das persönliche Wachstum beider weniger ins Auge sticht. Das heißt nicht, dass der Film oberflächlich ist; das heißt aber, dass die emotionalen Höhepunkte und kathartischen Momente weniger stark treffen, als sie das im ersten Film taten. 

Ein Beispiel: Freude hat in der Mitte des Films eine Sinnkrise, weil sie nicht weiß, wohin sie die übrigen Emotionen und somit Riley zukünftig lenken soll. Sobald Freude diese Krise zugibt und Klartext redet, löst sie sich viel zu schnell auf, als dass sie sich wirklich gewichtig anfühlt. Direkt im Anschluss finden Trauer, Angst, Ekel und Wut, angeführt von letzterem, überraschend schnelles Verständnis für die entmutigte Kollegin und setzen ihre Reise zu Rileys Selbstkonzept (ja, als physischen Ort) fort. Die meisten Probleme und Hindernisse sind in Sekundenschnelle gelöst, ohne dass der Film die Momente sacken lässt. 

Die Reise zu den Tiefen von Rileys Selbstkonzept macht Spaß, gestaltet sich aber leider oft zu einfach.

Paradoxerweise ist das aber auch eine der Stärken des Films: „Alles steht Kopf 2“ ist nach modernen Maßstäben hervorragend gepaced. Er startet schnell, unterhaltsam und unmittelbar, indem Freude auf mitreißende Art und Weise ein Eishockeyspiel von Riley moderiert. Der Film wirkt in seinem gesamten Verlauf nie langsam. Er hat keine Längen, bei denen die Aufmerksamkeit des Publikums abschweifen könnte. Wenn Action passiert, toppt „Alles Steht Kopf 2“ an Intensität und Kreativität locker die meisten Blockbuster, die Hollywood derzeit ausspuckt. Perfektes Beispiel ist die Szene, in der die etablierten Emotionen durch einen buchstäblichen Brainstorm fliegen, um an ihr Ziel zu kommen. Nur leider gehen die schnellen Übergänge zu den nächsten Setpieces und Charakteren manchmal auf Kosten tiefgründiger Momente.

Feuerwerk für Augen und Ohren

Was sich der Film gegenüber dem ersten Teil bewahrt hat, ist der schiere Einfallsreichtum, der auf der Leinwand zu sehen ist. Das Produktionsteam des Films hat sich auch diesmal viel mit Psycholog:innen abgesprochen, um die Emotionen und Rileys Entwicklung und Verhalten möglichst realistisch und nahbar darzustellen. Dass Pete Docter und alle, die an dem Film mitgearbeitet haben, in der Lage sind, so unterschiedliche und komplexe Konzepte wie etwa den Bewusstseinsstrom, die Traumfabrik, unterdrückte Erinnerungen oder das Selbstkonzept stimmig in einem Film unterzubringen, ist bewundernswert. Dass dies dann auch erwartungsgemäß fantastisch und quicklebendig aussieht, ist ebenfalls beeindruckend. 

Neben dem Visuellen sitzt in „Alles Steht Kopf 2“ auch die Musik. Sie drängt sich in keiner Szene allzu sehr in den Vordergrund und ist, den Szenen angemessen, meist entweder stark energetisiert oder melancholisch angehaucht. Mit einer Ausnahme: Im Finale des Films, als alles für Zweifel den Bach herunterzugehen droht, schwillt die musikalische Untermalung für ein paar Minuten enorm an. Dieses Finale dreht durch seine Visuals und den Score den Spannungsgrad so stark an, dass man als Zuschauer*innen nur zu leicht eines vergisst: All das spielt sich „nur“ in Rileys Kopf ab, während sie in einem  entscheidenden Eishockeyspiel auf der Strafbank eine Panikattacke hat. Das Problem besteht nur darin, dass auch hier der Konflikt zwischen Zweifel und den übrigen Emotionen zu schnell und zu einfach gelöst wird, als dass es Sinn macht.

Trotz der Schwächen des Films sind die Figuren querbeet liebenswert (v. l. n. r. Wut, Angst, Freude, Trauer, Ekel, Neid, Zweifel, Peinlich).

Das ist schade, denn Zweifel ist den Großteil des Films eine sympathische Antagonistin, die zugleich zu beängstigendem Kalkül fähig ist. In Echtzeit betrachtet, ist sie das aber nur für ca. drei Tage – denn so lange dauert das zuvor erwähnte Eishockeycamp, in dem Riley mit den Folgen ihrer persönlichen Entwicklung konfrontiert wird. Natürlich ist Zweifel zum Ende des Films eine neue Figur, die auf unbestimmte Zeit in ihr bleiben wird, und natürlich ist sie immer noch sie selbst. Dennoch ist die unerhört geschwinde Auflösung des zentralen Konflikts der mit Abstand unrealistischste Teil des Films. Ansonsten ist er nämlich extrem gut darin, mich glauben zu lassen, dass Emotionen kleine Charaktere sind, die Chaos in meinem Kopf stiften. 

Einladung zum Kopfkino

Das ist eine schöne Vorstellung und vielleicht sogar das größte Lob, das man einem Animationsfilm aussprechen kann: wenn man sich während des Schauens unzählige Szenarien, Figuren und Interaktionen ausmalen kann, die über die Inhalte des Films selbst hinausgehen. „Alles Steht Kopf 2“ schafft das trotz der genannten Schwächen. Er macht fast alles richtig, was auch der erste Film schon richtig machte und entwickelt die Welt packend weiter. Er überbietet ihn nur leider nicht und verzeichnet in den Bereichen Charakterentwicklung sowie emotionaler Tiefgang leichte Rückschritte. Wenn man sich dabei aber die Messlatte von Teil eins vor Augen führt, merkt man, dass sie nicht fair ist.

Alles Steht Kopf 2“ kam am 13. Juni 2024 in die deutschen Kinos und wird derzeit in den meisten Münchner Kinosälen sowohl in deutschsprachiger Synchronisation als auch im englischen Original ausgestrahlt.

Für dich vielleicht ebenfalls interessant...