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Zwischen den Bäumen des Gezi-Parks

Der Istanbuler Professor Manuel Knoll erklärt im Interview die politische Lage in der Türkei  

Seit Ende Mai die ersten Demonstranten den Istanbuler Gezi-Park besetzten, hat sich die internationale Sicht auf die Türkei geändert: Vor allem Ministerpräsident Tayyip Erdoğan steht wegen des gewaltsamen Einschreitens der Sicherheitskräfte in der Kritik. Zwischen EU-Beitrittsverhandlungen und zunehmender Islamisierung ist auch jenseits aller Proteste ungewiss, in welche Richtung sich die Türkei in den kommenden Jahren entwickelt.

Tränengas gegen Demonstranten in der Nähe des Gezi-Parks. Foto: Alan Hilditch / turquoise days

Die Geschehnisse rund um den Gezi-Park sind einzigartig in der Geschichte der Türkei: Welchen Einfluss hat es auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt, dass zum ersten Mal Kurden, Armenier und Türken Seite an Seite für die gleiche Sache kämpfen?

Die gemeinsame Opposition gegen Erdoğan und seine Pläne hat sicherlich manche Gräben zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen überwunden. Dennoch erwarte ich mir davon keine Verbesserung des Zusammenhalts der türkischen Gesellschaft als ganzer. Diese ist, grob gesagt, gespalten in ein religiöses und ein säkulares Lager: die Anhänger von Erdoğans AKP (= Adalet ve Kalkınma Partisi, die derzeit die Mehrheit der Sitze im türkischen Parlament hält, Anm. d. Red.) und dessen inoffizieller Koalitionspartner, die Bewegung des mächtigen islamischen Predigers Fetullah Gülen auf der einen Seite, deren Gegner auf der anderen. Erdoğans zunehmend islamisch bestimmte Politik wie die neue Anti-Alkohol-Gesetzgebung und das gewaltsame Vorgehen seiner Polizei gegen die Protestbewegung dürfte diese Spaltung weiter verstärken.

Um Bäume geht es ja schon lange nicht mehr: Welchen Einfluss hatten und haben die Proteste in der türkischen Politik? Werden sie zu mehr Demokratie, Meinungsfreiheit und Medienvielfalt führen?

In den Protesten manifestiert sich erstmals eine aktive Zivilgesellschaft in der Türkei. Das kann auch als Fortschritt hin zu einer demokratischeren politischen Kultur verstanden werden. Ob sich dieses Phänomen fortsetzen und langfristig zu einer zunehmenden Demokratisierung der Türkei führen wird, ist schwer zu sagen. Kurzfristig verletzen die Reaktionen von Erdoğan und seiner AKP auf die Proteste demokratische Rechte wie die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und das Recht auf friedliche Demonstrationen. Teil dieser Reaktionen sind auch Versuche, die Medienvielfalt zu reduzieren und oppositionelle Medien zu schließen.

Wie stark sind die Einschränkungen der Pressefreiheit in der Türkei? Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass viele türkische Medien tagelang nicht über die Unruhen berichteten?

Professor Manuel Knoll (http://www.manuelknoll.com/)

In keinem Land der Erde sitzen mehr Journalisten im Gefängnis als in der Türkei. Die staatlich kontrollierten Medien wie CNN Turk zeigten während der Proteste eine Dokumentation über Pinguine. Unliebsame Medien wie Halk TV sollten durch hohe Geldstrafen zur Schließung gezwungen werden. Zudem hat Erdoğan während der Proteste bei den Medien aktive Personalpolitik betrieben.

Wie wichtig waren soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter für die Proteste? Ist es nicht gefährlich, wenn auf diese Weise Falschmeldungen verbreitet werden?

Soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter waren als alternative Informationsquelle zu den offiziellen Medien für die Proteste sehr wichtig. Zu Beginn gab es tatsächlich einige Fälle von Falschmeldungen und falschen Informationen. Das liegt schlicht auch daran, dass jeder etwas auf Facebook posten oder etwas twittern kann. Das hat sich aber im Verlauf der Proteste zunehmend gebessert. Zudem haben die Menschen gelernt, ihre Quellen kritisch zu hinterfragen und zu unterscheiden, welchen aktiven Nutzern sie vertrauen können und welchen nicht. Über die sozialen Netzwerke wurden schnell wichtige Informationen, etwa darüber wann und wo protestiert wurde, zugänglich. Des weiteren: Meine eigenen Posts auf Facebook waren, wie ich erfahren habe, auch der Grund, warum dieses Interview zustande kam.

Gingen die verschiedenen Religionsanhänger der Istanbuler Gesellschaft unterschiedlich mit den Geschehnissen um?

Das ist schwer zu sagen, weil Christen und Juden in der Türkei zwar toleriert werden, aber kaum eine Stimme haben. Die Nichtreligösen und Liberalen sind mehrheitlich Kritiker oder Gegner Erdoğans und seiner AKP; die Mainstream-Sunni-Muslime sind dagegen mehrheitlich seine Unterstützer. Eine bedeutende gesellschaftliche Gruppe in der Türkei sind die islamischen Aleviten, die 15-25 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die Aleviten sind mehrheitlich auf der Seite der Gegner Erdoğans und seiner AKP.

In Deutschland wird Erdoğan unter anderem für seinen autoritären Politikstil und die staatliche Einmischung in das Privatleben kritisiert. Was ist dran an diesen Vorwürfen?

Diese Vorwürfe sind berechtigt. Erdoğans autoritärer Politikstil ist auch einer der Gründe für die gegenwärtigen Proteste. Erdoğan versucht etwa allen türkischen Frauen vorzuschreiben, dass sie mindestens drei Kinder zur Welt bringen sollen. Zudem will er Abtreibungen unter Strafe stellen.

Wie verhält sich Erdoğan zur Gestalt und zum Erbe Atatürks?

Zu Beginn seiner Zeit als Ministerpräsident verhielt sich Erdoğan respektvoll zu Atatürk und zu seinem Erbe. Von dieser Haltung ist er im Verlauf der Jahre zunehmend abgerückt. Das zeigt sich etwa daran, dass die von Atatürk gegründeten Nationalfeiertage mittlerweile in Schulen nicht mehr die Bedeutung haben, die sie einmal hatten. Im Zusammenhang mit dem neuen Anti-Alkohol-Gesetz hat Erdoğan Atatürk und seinen Nachfolger, ohne sie beim Namen zu nennen, aber dennoch unmissverständlich, als „Alkoholiker“ bezeichnet.

Werden sich die politischen Machtverhältnisse bald ändern, möglicherweise schon bei den nächsten Parlamentswahlen 2015?

Das ist schwer zu sagen, weil bis dahin noch viel passieren kann. Nach aktuellen Meinungsumfragen haben Erdoğan und die AKP an Popularität eingebüßt. Allerdings gibt es zur Zeit keine wirklich starke Oppositionspartei, die eine große Mehrheit der Bürger hinter sich versammeln könnte.

Gefährden die Proteste und die folgende Reaktion von staatlicher Seite die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei?

Ja. Die große Frage ist allerdings, ob Erdoğan und seine inoffiziellen Koalitionspartner überhaupt noch Interesse an einem EU-Beitritt haben oder ob sie sich nicht vielmehr stärker in die Richtung des arabischen Raums orientieren. Seitdem das Militär kein autonomer Machtfaktor in der Türkei mehr ist – ich denke spätestens seit Sommer 2011 – hat die gegenwärtige Regierung ein wichtiges Ziel erreicht, für das die EU-Beitrittsverhandlungen sehr nützlich waren.

Foto: flickrcom/tmiletli

Ist ein EU-Beitritt angesichts der Ereignisse aus Ihrer Sicht überhaupt möglich oder wünschenswert? Nicht zum ersten Mal hegt man in Europa Zweifel an der liberalen Ausrichtung des türkischen Staats…

Ich habe 2009 in einem Artikel, der in dem politischen Kulturmagazin Gazette erschienen ist, für einen EU-Beitritt der Türkei argumentiert. Nach zweieinhalb Jahren in der Türkei, in denen ich viele unerfreuliche Dinge gesehen und erlebt habe, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob „die“ Türkei wirklich zu Europa passt. Die neue Anti-Alkohol-Gesetzgebung, die auch der türkischen Tourismusindustrie schaden wird, stimmt nicht gerade optimistisch. Das Gesetz sieht etwa eine Gefängnisstrafe von bis zu zwei Jahren für Autofahrten mit über 1,0 Promille vor. Die Werbung für Alkohol wird mit extrem hohen Geldstrafen (bis zu ca. 250.000 Euro) geahndet. Aus Angst vor einer restriktiven Auslegung des Gesetzes wurde Ende Juni das traditionelle Weinfestival auf der schönen Insel Bozcaada abgesagt.

Viel wird also davon abhängen, welches der beiden Lager, in die die türkische Gesellschaft gespalten ist, die Oberhand gewinnen wird. Sollte dies das religiöse Lager sein, dann kommt es darauf an, ob die islamischen Führer heute noch zu genuiner Toleranz fähig sind, die eines der Erfolgsgeheimnisse des muslimischen Spaniens war.

 

Prof. Dr. Manuel Andreas Knoll (geb. 1964) ist seit 2011 Professor für Philosophie an der Fatih-Universität in Istanbul. Zuvor war er über zehn Jahre lang Dozent am Münchner Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaften, wo er auch promovierte und habilitierte. Das politische Geschehen kommentiert er regelmäßig auf seiner Facebook-Seite.

 

 

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