Johann Simons‘ „Judas“ an den Münchner Kammerspielen präsentiert einen gescholtenen Gottesverräter, der sich missverstanden fühlt und wehrt.
Von: Simon Berninger
„Schon seit 2000 Jahren versucht die Menschheit, mich zu begreifen“, sagt eine kauernde Gestalt in Richtung der schwarzen Wand, auf die auch das Publikum auf der Empore der Münchner Kammerspiele blickt. Der nackte Mann auf einer Holzleiter wagt es nicht, in die Augen der Menschen zu schauen. Nur eine Kerze wirft ein schales Licht auf seinen Rücken, auf dem eine große Geißelungsnarbe verrät, welche Qualen Judas auf sich nehmen musste.
Der Regisseur Johann Simons, scheidender Intendant der Kammerspiele, hat den Monolog eines Verräters inszeniert. Autorin Lot Vekemans hat ihm eine Stimme gegeben : Judas (gespielt von Steven Scharf) – der Mann, der Jesus von Nazaret mit elf weiteren Anhängern vom ländlichen Galiläa bis in das judäische Kultzentrum Jerusalem begeistert nachgefolgt ist. Dort stößt Jesu Botschaft auf Ablehnung. Vekemans‘ Judas lässt seiner Frustration darüber, damals für den abgelehnten „Messias“ alles aufgegeben zu haben, freien Lauf. „Wahnidee“ nennt er nunmehr die Botschaft Jesu, an die er in Jerusalem den Glauben verlor. „Ich habe an allem gezweifelt, an das ich geglaubt habe.“ Und der Mensch handle aus Zweifel, nicht aus Glaube: „Zweifel ist das schwarze Loch zwischen zwei Handlungen.“ Deshalb hat er auf die Seite der Gegner gewechselt. Mit einem Kuss verrät er Jesus an diejenigen, die ihn als unliebsamen Unruhestifter aus dem religiösen Verkehr ziehen wollen. Dass es zum Tod des Verratenen käme, habe er nicht vorhergesehen.
Gleichwohl, seine Tat hat ihn zur „Ikone des Verrats“ gemacht, der 2000 Jahre später noch an ihm klebe „wie Fliegen an einem Haufen frischer Scheiße“. Aber, fragt er das Publikum, dem er immer noch nicht in die Augen schauen kann: „Wissen Sie eigentlich, wie es ist, wenn man immer nur im Schatten steht? Was ist das für ein Leben?“ Es sind Fragen wie diese, die Regisseur Simons der Textvorlage von Vekemans folgend seinen Judas stellen lässt, und mit denen er ein selbstreflexives Psychogramm des Verräters auf die Bühne bringt.
„Judas wird von Menschen verhöhnt, damit sie ihre eigenen Seelen rein waschen“, wird die Autorin auf dem Flyer der einstündigen Inszenierung zitiert. Also schlägt der Judas der Münchner Kammerspiele zurück. Er hält dem Publikum einen imaginären Spiegel vor. Er behauptet zu Anfang beispielsweise, dass ein Zuschauer seinen Eintritt nicht bezahlt hätte. Mit Blick auf seine einstige Tat verweist er auf die anderen Apostel, die im Grunde alle „folgsame Schisser“ gewesen seien – obwohl: auch Petrus hat Jesus gleich dreimal verleugnet, dann, als es ernst wurde, die übrigen Jünger flüchteten zurück nach Galiläa. In Wahrheit habe doch er die Schuld auf sich genommen. Für 30 Silberlinge macht er „dem Wahnsinn“, für den die Apostel nicht gerade stehen, ein Ende. „Ich hatte keine Angst vor den Folgen für ihn“, dessen Namen Judas gleichwohl kein einziges Mal aussprechen kann, „Ich hatte Angst vor den Folgen für mich.“ Und wir? „Und wo hätten Sie ihn empfangen als Messias? Wo hätten Sie gestanden? Am Wegesrand? Hinter dem Fenster?“
Inzwischen ist die Kerze neben ihm erloschen, er steht in der Haltung des Gekreuzigten – immer noch mit dem Rücken zum Publikum – von der Leiter an die schwarze Wand gepresst. Dreimal prasselt von oben Schutt und Staub auf ihn ein, bis er sich windend die Leiter wieder hinabsteigt. „Ich bin Judas Iskariot.“ Mit seinem Namen der Abstieg. Dieser führt aber noch weiter als bloß auf Bühnenniveau, die Leiter geht tiefer, hinein in den Orkus, die Unterwelt, die Hölle, in der er am Ende verschwindet und das schale Bühnenlicht erlischt.
Die einstündige Inszenierung von Judas Auferstehung ist eine Apologie: Judas begegnet den Zuschauern verbal und auch räumlich auf Augenhöhe, denn die Empore auf die Simons seinen Judas klettern lässt befindet sich auf Höhe der Zuschauerplätze. Es ist die Inszenierung einer Chance, seinen Namen in besseres Licht zu rücken und die Deutung seines Schaffens über 2000 Jahre hinweg als Missdeutung zu entlarven. Es ist die Inszenierung einer missglückten Chance auf Rehabilitation. Am Ende muss Judas in den Untergrund zurückkehren, von wo er gekommen war. Zurück bleibt die Frage, inwieweit der Zuschauer bereit ist, sich mit diesem Judas zu identifizieren.