Online Philterchen

Um ein Haar

Nach vier Jahren Studium im Schneckentempo, von denen ich allerdings eins in England geschneckt habe, ist es auch bei mir endlich so weit: Ich habe zehn Wochen Zeit, meine Bachelor-Arbeit zu schreiben. Doomsday und Anmeldung: Ein Montag Ende März. Ein Paar Tage davor sitze ich mit meiner Mitbewohnerin auf unserem Balkon, im Radio tönen ADHS-Klänge auf M 94.5, aber wir sind beide zu faul umzuschalten, und ehrlich gesagt könnten wir den Kaffee auch gegen Bier tauschen, da sind wir uns einig, aber brav gehe ich rein und verscheuche den Gedanken, ich muss noch eine Seminararbeit fertig schreiben.

Ich sitze also seelenruhig mit meinem Laptop in der Küche und versuche, einen schmissigen, pathetischen, Literaturnobelpreis-verdächtigen Schluss zu meiner schmissigen, pathetischen, Friedensnobelpreis-verdächtigen Arbeit zu schreiben, draußen scheint die Sonne, und die Aussicht darauf, dass sie bald nicht mehr ohne mich scheint macht mich sehr glücklich und sehr, sehr kreativ, und ich schreibe in einem Rekordtempo einen letzten Absatz, der ein derart hirnverbrannter und schmalziger Käse ist, dass ich weiß, wenn ich ihn noch einmal durchlesen müsste, würde ich schamrot werden, weil er so platt ist wie das Papier, auf dem ich gleich meine fertige Arbeit ausdrucke. Nochmal Rechtschreibfehler überprüfen und schauen, ob alles brav im Blocksatz steht, und nebenbei E-Mails checken.

Eine neue E-Mail, gesendet vor einer halben Stunde, denn über einen längeren Zeitraum mein Mail-Postfach nicht zu öffnen, das schaffe ich nicht, wenn ich eine Seminararbeit schreibe: Es könnte ja immer das Wahnsinns-Jobangebot aus Madagaskar eintrudeln, Literaturwissenschaftler-Mangel unter Palmen, das kennt man ja, also sollte man seine E-Mails nicht vernachlässigen. Auf jeden Fall eine neue E-Mail. (Das Jobangebot lässt mal wieder auf sich warten.) Im Betreff: „Ihre Anmeldung zur Bachelor-Arbeit“ von meiner Studiengangskoordinatorin. Mir wird schon ein wenig flau im Magen, weil die Nachricht persönlich an mich adressiert ist, nicht an alle Studenten meines Semesters, ich öffne die E-Mail und überfliege sie, die schlimmsten Stichworte kaue ich in meinem Kopf wieder: Frau Hein. Anmeldung zur Bachelor-Arbeit. Mehrmals darauf hingewiesen. Nicht vorbeigekommen. Anscheinend gedenken Sie nicht im SoSe zu schreiben. Mit freundlichen.

Ich bleibe ganz ruhig, und überlege, was ich tun soll. Immer noch ruhig überprüfe ich im Internet das Datum für die Anmeldung, Montag, 24.03. Heute ist der Freitag davor. Immer noch ganz ruhig, lese ich die E-Mail nochmal durch. Aha. Hätte vorher Formular unterschreiben müssen. In meinem Kopf fängt es irgendwie an zu surren. Ich schaue auf die Uhr, viertel nach zwei, Nachmittag. Ich könnte vorbeifahren, an der Uni, und ganz souverän das Missverständnis erklären. Ich nehme ruhig meinen Schlüssel, knalle, ganz entspannt, die Tür und gehe unbeschwert die Treppe runter. Dann renne ich zur U-Bahn.

Der Schweißausbruch

Auf dem Weg zur Uni kaue ich meine Fingernägel runter auf Überlebensminimum und lege mir zurecht, was ich gleich sagen werde. Sehr geehrte Frau, tut mir wahnsinnig Leid, das Missverständnis, aber ich kann doch nicht noch ein weiteres Semester studieren, obwohl das Studium so unfassbar interessant und prägend für mich ist, aber wenn ich im Winter erst die Arbeit schreibe, dann verliere ich ein halbes Jahr, das ich eigentlich für Urlaub, Arbeitserfahrungen, nein, humanitäre Hilfe brauche, und trotz des immens faszinierenden und realitätsnahen Studiums würde ich doch gerne meinen Abschluss schon im Sommer machen…ich sprinte die U-Bahn-Treppen hoch und kurze Zeit später stehe ich vor der großen, grün lackierten Holztür unseres Sekretariats. Sie ist verschlossen. Zwanzig vor drei ist es, am Freitag, klar, das Sekretariat ist jetzt unbesetzt. Ich kann diese theoretischen Mist unmöglich noch ein weiteres halbes Jahr studieren. Versteht mich nicht falsch, ich liebe mein Studium, aber die meisten Tage komme ich nach Hause und habe das dringende Bedürfnis, Kranfahrerin oder Betonmischer zu werden, irgendwas Praktisches halt. Das habe ich mir jetzt auf jeden Fall für ein weiteres halbes Jahr verbaut, denke ich, und gehe langsam die Stufen hinunter und aus dem Gebäude in der Schellingstraße 3, bei dem sich irgendein 60er Jahre-Archtitekt mal dachte, Sprachwissenschaftler, die haben so viel Sonne im Herzen, die brauchen keine Fenster. Ich bin so kurz davor, meine Mutter anzurufen, aber ich mache es nicht.

Als ich zu Hause ankomme, habe ich schon mit meiner Mutter, meiner Schwester und meinem Freund telefoniert, und eine SMS mit dem sehr literarischen und aussagekräftigen Inhalt: „Scheiße!“ an ein halbes Dutzend Freunde geschickt.

Die Läuterung

Am Montag stehe ich um neun vor dem Sekretariat auf der Matte, müde, augenringig aber immerhin pünktlich, und ich blicke auf das kleine Schild neben der Tür, auf dem die Öffnungszeiten zu lesen sind: Montag: 10:00- 15:00 Uhr. Ich seufze und hole mir beim Bäcker an der Uni bei einem unglaublich gut gelaunten Mädchen Kaffee, aber die gute Laune überträgt sich nicht auf mich, ich habe so ein ungutes Gefühl im Magen, dass ich seit der fünften Klasse nicht mehr hatte, wenn ich auf eine Mathe-Ex nicht vorbereitet war, oder wie wenn man von einem Lehrer auf den Gang geschickt wurde, um auf die Ausfrage zu warten. Bei einem mussten wir immer die Klinke runterdrücken, damit der wusste, das wir noch da waren, nur um dann fünf Minuten später wieder ins Klassenzimmer geholt zu werden und vor den anderen 25 Kindern entweder einigermaßen zu bestehen oder, wenn es schlecht lief, zu versagen, und ist da nicht immer ein bisschen Sadismus mit dabei? Das frage ich mich, während ich die Treppenstufen zur Fakultät wieder raufgehe, und setze mich noch eine halbe Stunde auf die Treppe, um auf das Urteil zu warten, ob meine Unterschrift heute auch noch ausreicht, oder ob ich sie schon mal vorsorglich auf ein Kärtchen mit Trauerrand für das nächste Semester schreiben soll.

Ich höre die beiden Frauen, die darüber entscheiden, ob ich ein halbes Jahr früher in die Freiheit entlassen werden soll, oder nicht, schon die Treppe raufkommen stelle mich hin. Sie haben mit mir gerechnet, ich sehe es ihnen an, aber sie sehen freundlich aus, und lächeln, „Frau Hein, wir haben Sie erwartet“, na also, und sie sehen auch überhaupt nicht so aus, als ob sie mir wegen meiner grenzenlosen Unfähigkeit zu lesen, am liebsten die Augen auskratzen würden, oder ausstechen, wir sind hier immerhin in der Literaturwissenschaft. Ich folge ihnen ins Büro und will meine reumütige Rede zum Besten geben, aber ich bekomme nur freundlich ein Formular gereicht, auf dem ich unterschreiben soll, und dann hat sich die Sache erledigt. Ich bedanke mich artig und trete aus der Tür, obwohl ich beiden Frauen am liebsten noch um den Hals gefallen wäre, und gehe schwungvoll die Treppen runter. Ich war selten so erleichtert.

Für dich vielleicht ebenfalls interessant...