Es ist ein kleiner Raum, deswegen fällt es nicht schwer, die „Minimal-Skulptur“ – so Kuratorin Sabine Weingartner – zu entdecken. Das Wellblech-Konstrukt, monströs und plump zugleich, provoziert zunächst genau die Frage, die sich jeder Museumsbesucher beim Betrachten von Ausstellungsstücken zuweilen stellen mag: „Und das soll Kunst sein?“
Umso mehr, als einer der beiden dafür verantwortlichen Künstler, Clemens Geißler, auf die Frage nach den Entstehungsumständen pragmatisch zur Antwort gibt, dass man sich überlegt habe, „außer Bildern noch was anderes“ für die Ausstellung produzieren zu müssen, etwas, das aussehe, als habe man „vergessen, aufzuräumen“. Dieses Vorgehen ist in zeitgenössischen Kunstkreisen zwar nicht besonders innovativ, aber auch nicht untypisch: Man denke nur an die spektakulären Zerstörungen von Ausstellungsstücken wie bei Kippenberger oder Beuys durch Putzarbeiten. Trotzdem überzeugt mich die ästhetische Gesinnung der Produzenten zunächst kaum von dem Modell, das da vor mir steht, und ich bilde mir eine vorschnelle und darum vorläufige Meinung, die es zu revidieren gilt: Kunst ist das nicht.
Tatsächlich aber steht da ein Schiff. Es ist weiß, hat ein unteres und ein oberes Deck und blaue Kabinenfenster, außerdem einen dicken Schornstein, der an die Titanic erinnert – wahrscheinlich, weil das Bild einfach derart filmisch vorbelastet ist. Auf der Bugseite ist am Schiffsbauch eine Turbine angebracht, die die Gischt von der Wasseroberfläche hinauf spritzt. Seitlich und vorne am Heck schließlich ein bekanntes Emblem: ein geschminktes Auge, ein übergroßer, roter Mund, ein zweites Auge.
AIDA statt Titanic also. Man beginnt zu begreifen, worum es hier eigentlich geht: Das schäbige Modell eines Kreuzfahrtdampfers, mit Graffiti besprüht, nur durch Schnüre und gewellte Kunststoffplatten zusammengehalten. Ein Kunstwerk, das aus industrieller Massenware (Relikte einer vergangenen Messepräsentation der „Mahlergruppe“) gefertigt ist und wohl deshalb wenig mit der „Authentizität“ und „Aura“ gemein hat, die z.B. Walter Benjamin zu den zentralen Qualitätskriterien von Kunstwerken erhoben hat.
Tanzabende, Animation, Massentourismus und Wegwerfgesellschaft
Andererseits erweist sich das Manko an künstlerischer Genialität nur als scheinbares und wird zum Vorzug, weil das Schiff in seiner Profanität formal genau das widerspiegelt, was es zum Inhalt hat: ein Massenprodukt. Obwohl keine Menschen zu sehen sind, denke ich unwillkürlich an die Reisewerbungen namhafter Tourismusunternehmen, an übergroße, überfüllte Riesendampfer mit Wellnesssuites, Spa- und Fitness-Bereichen, Innen- und Außenkabinen, Außenkabinen mit Balkon, an volle Decks mit 10-Quadratmeter-Swimmingpool, an dutzende Restaurants: mediterran, französisch, Marktcafés oder Pizzerien. Für jeden Geschmack ist etwas dabei, auch für die Kleinen – natürlich sind wir kinderfreundlich! – und überhaupt, die Kleinen sind schließlich die großen Konsumenten von morgen. Volle Buffets, Vergnügen im Überfluss, Musicals, Tanzabende, Animation, durchgetaktete Tagespläne und Städtetrips, Massentourismus, Wegwerfgesellschaft.
Natürlich liegt der Verdacht der abfälligen, einseitigen Konsumkritik nahe. Offensichtlich ist das auch die wesentliche Aussage, um die es den Künstlern geht. Aber gerade weil das Schiffsmodell so simpel, profan und symbolisch vor mir steht, offenbart sich schnell sein Reiz: die Flucht in die Nostalgie. Längst vom Flugzeug als primäres Transportmittel überholt, erinnert das Schiff an vergangene Zeiten, nie erlebte Abenteuer, die Entdeckung neuer Länder und Kontinente. Im Gegensatz zum Flugzeug hat es dabei einen entscheidenden Vorteil: Man erlebt das Reisen, die Bewegung von A nach B authentisch mit, vollzieht das Verwandeln der Umgebung mit eigenen Augen nach und steigt nicht an einem Tag nur deshalb in einen Airbus ein, um am nächsten auf einem anderen Kontinent zu landen. Der Weg ist hier das Ziel, nach dem sich der Urlauber sehnt.
Umso plausibler erscheint da die Erklärung, die der zweite Künstler Sebastian (dessen Nachname nicht zu erfahren ist) schließlich dazu gibt. Man habe das Modell als Gegenentwurf zum „Platzspitz“ gewählt, weil es die andere Seite des „Aussteigen-Wollens“ zeige. Das Bedürfnis, aus dem Alltag und tagtäglichen Trott auszubrechen, Urlaub zu nehmen, um diesen auf dem Mikrokosmos des Kreuzfahrtschiffs zu verbringen. Ein Aussteigen, das im Unterschied zum Drogenkonsum gesellschaftsfähig ist, keineswegs tabuisiert, dafür aber mindestens ebenso fragwürdig.
Weitere Informationen:
Die Ausstellung „Of two Minds“ ist noch bis zum 26.05.2013 im kunstraum münchen zu sehen. Obwohl die Namensgebung ein größeres Kollektiv suggeriert, handelt es sich bei der Mahlergruppe um ein Künstlerduo, Sebastian und Clemens. Ihre Werke sind in der Auseinandersetzung mit den Themen Community, Gewalt, Drogenkonsum und Parallelgesellschaften entstanden. Bei Interesse gibt es die Möglichkeit, am 18. Mai um 12 Uhr an einer Kuratorenführung mit Sabine Weingartner teilzunehmen. Der Eintritt ist kostenfrei.