Er hieß Eckart und hatte merkwürdigerweise güldenes Haar. In seinem gut durchbluteten Gesicht saßen zwei klare, blaue Augen, die mit scharfem Blick die Welt abmaßen. Eckart war einer meiner ersten Freunde an der Universität, ich brachte ihm im Winter Glühwein, er mir Kaffee – meine Bonbons lehnte er meistens ab. An sich wäre es das nicht wert, aufgeschrieben zu werden – wäre da nicht eine Sache: Eckart war über 60 und Seniorenstudent.
Was schimpft man nicht oft auf die Vertreter dieser Spezies? Eine kurze Best-Of-Liste der Vorwürfe: Seniorenstudenten nähmen den armen Geschichts-, Philosophie- oder Theologiestudenten die Plätze im Hörsaal weg, störten Vorlesungen durch übertrieben lautes Klappern mit Kaffeetassen oder lautes Quietschen mit schlecht geölten künstlichen Hüftgelenken, winkten sich quer durch die Gänge zu, kleideten sich nicht ihrem Alter entsprechend und hätten Namen wie Waltraud oder Eberhard. Der typische Seniorstudent hat es nicht leicht, so vielen Ressentiments sieht er sich ausgesetzt. Doch sind diese alle noch nichts zur ultimativen Anklage, die insgeheim jeder von uns Juniorstudenten erhebt: Studenten zweiter Klasse.
Er sei über 40 Jahre Ingenieur gewesen, sagte mir Eckart. Jetzt mache er das, was ihm Spaß macht. Eckart klapperte nie mit der Kaffeetasse. Ich bewunderte ihn dafür und erwiderte bestimmt irgendetwas juniormäßig Belangloses darauf. Hinterher fragte ich mich: Spaß? Jemand, der vieles gesehen hat im Leben, Kinder und Enkel großgezogen und ernährt hat, sogar die Ausläufer des Zweiten Weltkriegs miterlebt hat, kurz: jemand, dessen Leben reich an Entbehrungen war, begibt sich freiwillig wieder zurück an die Universität. Und hier begegnet er jungen Studenten wie mir, deren drängendstes Problem oft ist, dass der Kaffee in der Mensa nicht schmeckt und man deswegen bis zur U-Bahn oder zum Schneller laufen muss. Oder dass dieser oder jener Dozent doch so furchtbar doof und ungerecht ist.
Eckart tat mir leid: Er erfüllte sich seinen Traum – und musste sich doch dabei mit so unfertigen Halbstarken abgeben, die nicht wissen, was sie eigentlich wollen. Ich bekam durch Eckart (auch wenn er dies selbst nie tat!) ein bisschen Verständnis für die Seniorenstudentinnen, die im Hörsaal nicht Platz für die Jungen machen wollen. Wozu auch? Für eine Studentenschaft mit eisenharten Prinzipien, aber letzlich ohne Ideale? Eckart zeigte mir anschaulicher als jedes Einführungsseminar, was das „interesselose Wohlgefallen“ eigentlich bedeutet. Auch ein Seniorenstudium verdient Respekt, in mancher Hinsicht weniger als ein erstes, in mancher aber auch mehr.
Später habe ich meinen, wie ich ihn in Gedanken gerne genannt habe, „dritten Opa“ Eckart dann aus den Augen verloren. Klar: Ins Max&Moritz wollte er eigentlich nie mit, da habe ich ihn mit der Zeit immer seltener und irgendwann gar nicht mehr angerufen. Naja, Freundschaften kommen und gehen halt.