Tobias Heinrich ist Lektor für deutsche Sprache, Literatur und Kultur an der University of Kent. Unter anderem beschäftigt er sich mit den Metropolen Wien und Berlin. Ein Gespräch über Gegenstädte.
Das Gespräch führte Lisa Chi
Herr Heinrich, womit beschäftigen Sie sich am liebsten?
Das hängt, glaube ich, von der Tagesstimmung ab. Einer meiner Schwerpunkte ist die Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts. Da geht es um Biographien und Biographietheorien. Ich beschäftige mich auch mit der Briefkultur im 18. Jahrhundert, vor allem mit der Frage, wie Briefe eine Form sozialer Medien sind.
Wie sind Sie auf das Thema Wien-Berlin gekommen?
Ich muss dazusagen, dass die Idee gar nicht meine war. Dieses Modul wurde vor Jahren von Deborah Holmes entworfen. Interessanterweise habe ich lange mit ihr zusammengearbeitet, bevor ich nach Kent gekommen bin. Ich war Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie, wo auch sie gearbeitet hat. Ihr Fokus lag immer auf Wien. Berlin kommt natürlich als Kontrast hinzu, als Hauptstadt Deutschlands und eine Metropole, die eigentlich ganz anders funktioniert als Wien.
Würden Sie sagen, dass diese beiden Städte tatsächlich ein Gegensatzpaar darstellen?
Ich glaube, im deutschen Sprachraum gibt es wenig größere Kontraste als zwischen Wien und Berlin. Das sind zwei Pole auf dem Spektrum der deutschsprachigen Kultur. Wien ist natürlich die ältere Stadt. Eine Stadt, in der auch Geschichte eine andere Rolle spielt. Die meisten Leute sagen, Wien ist eine Stadt, in der Geschichte überall präsent ist. Das kann man natürlich positiv sehen, hat aber auch einen negativen Beigeschmack. Wien kann auch eine sehr träge und müde Stadt sein.
Wie steht Berlin dazu im Vergleich?
Berlin ist immer in Veränderung begriffen. Jedes Mal, wenn ich nach Berlin komme, kommt es mir vor, als würde ich eine andere Stadt erleben, weil sich so viel tut. Ich glaube, es gehört auch zur Genetik Berlins dazu, dass alles in dieser konstanten Veränderung ist und nichts gleich bleiben darf.
Haben Sie das Gefühl, in beiden Städten jeweils ein anderer Mensch zu sein?
Definitiv. Ich glaube, dass die Stadt sehr stark mitbestimmt, wer man ist. Ganz generell. Berlin ist in einer anderen Art dynamisierend. Wien ist vielleicht mehr inspirierend. In Berlin tust du und in Wien reflektierst du.
Diese Inspiration, betrifft sie das Leben im Allgemeinen oder sprechen Sie mehr von einem gewissen Aspekt des Lebens?
Ich glaube, es ist wirklich, wie der Ort funktioniert. Also dass du dich in Wien an Orten triffst, die schon eine gewisse Langsamkeit eingeschrieben haben. Das beeinflusst die Gespräche, das beeinflusst das, was du tust. Es sind auch ganz pragmatische Dinge: wie schnell man von Ort A nach Ort B kommt und wie viel dazwischen liegt. Es gibt immer wieder Zeitlücken, die man füllen muss – oder eben auch nicht; die man zum Reflektieren, zum Nachdenken, zur Langsamkeit nutzen kann.
„In Berlin habe ich sozusagen mein Rückflugticket in der Tasche, in Wien bin ich dazu verurteilt, Wiener zu sein“
Sprechen Sie in Berlin anders als in Wien?
Ja. Ich glaube, das passiert mit allen und oft ungewollt, dass man ein bisschen den Ton einer anderen Umgebung annimmt. Vor allem, wenn die Unterschiede nicht allzu groß sind, wenn es nicht unbedingt eine ganz andere Sprache ist, sondern ein anderer Dialekt, ein anderer Akzent. Im Berlinerischen sind die Konsonanten sehr markant, das bringt diesen klaren Aspekt in der deutschen Sprache zum Ausdruck. Während die Wiener ja dafür bekannt sind, dass sie alles ein bisschen verschwimmen lassen. Wir würden sagen, wir vernuscheln die Dinge.
Gab es aber auch Momente, in denen Sie bewusst der „Wiener in Berlin“ sein wollten?
Ja, das ist auch das Angenehme. Das ist die Art und Weise, wie ich mit Berlin umgegangen bin. Ich finde es manchmal ganz angenehm, zu wissen, dass ich mich wieder davon distanzieren kann. Ich habe sozusagen mein Rückflugticket in der Tasche. Bei Wien ist das ganz anders. Da bin ich verurteilt dazu, Wiener zu sein. Davon kann ich mich nicht lösen; das hört man in meiner Sprache; das wird mir immer irgendwie eingeschrieben sein. Meine Beziehung zu Berlin ist eine viel entspanntere als zu Wien.
Liegt das an einem fehlenden Heimatbezug zu Berlin?
Genau. Und wenn, dann ist es eine geschaffene Heimat. Ich glaube, das ist überhaupt etwas, was Berlin für viele Menschen auszeichnet. Die meisten Menschen, die ich in Berlin kenne, sind irgendwann einmal nach Berlin gezogen und kommen nicht von dort. Berlin ist eine Wahlheimat und dadurch auch immer das, was Menschen daraus machen.
Würden Sie also sagen, dass es einfacher ist, in Berlin Fuß zu fassen als in Wien?
Ja, das höre ich immer wieder von anderen Menschen. William Shakespeare hat einmal gesagt: „Die ganze Welt ist eine Bühne.“ Wien ist eine ganz besondere Bühne. Dafür muss man erst ein Sensorium ermitteln. Was alles ungesagt bleibt, was alles im Hintergrund ist.
In welcher Stadt würden Sie Ihre eigene Biographie schreiben?
Wahrscheinlich an einem dritten Ort. Ich war vergangenen Frühling in Leipzig und habe das Gefühl, dass diese Stadt beides ein bisschen vereint. Auf der einen Seite ist Leipzig dynamisch, das neue Berlin. Gleichzeitig spürst du sehr stark die Geschichte. Sie spielt immer wieder einmal rein, auf eine Art und Weise, die mich dann wiederum an Wien erinnert.