Eine Hymne auf das „Rock am Härtsfeldsee“. Und auf die Menschen, die dieses Festival ausmachen.
Von Thilo Schröder
Die Sonne steht um 14 Uhr hoch am Himmel und Schweiß läuft in Rinnsalen an meinen Schläfen hinunter. Dennoch muss ich lächeln, als ich mit meinem vollgepackten Rucksack über das staubige Campinggelände laufe. Wie die Stacheln einer Punkfrisur ragen übriggebliebene Strohhalme aus dem bereits geernteten Feld. Aus irgendeiner Musikanlage weht Iron Maidens „Fear of the dark“ herüber. Mein Blick sucht und findet ein knapp Vierzig Jahre altes Feuerwehrauto, das zu einem Festivalmobil umfunktioniert wurde. Unter dem daneben aufgestellten Pavillon hebt jemand die Hand, als er mich sieht. Ich steuere direkt darauf zu. Die „Familie“ ist also schon da.
„Willst Du ein kühles Bier? Bedien dich am Kühlschrank und setz dich erst mal“, werde ich von der zu diesem Zeitpunkt fünfköpfigen Gruppe begrüßt. Ich nehme dankend an. Die Anreise zum „Rock am Härtsfeldsee“ (RaH) mit Bus und Bahn aus München dauerte zwar an einem Junivormittag nur rund drei Stunden, war jedoch aufgrund der Hitze vergleichsweise anstrengend. Jemand hat für mich eingekauft, damit ich als Nicht-Autobesitzer nicht so viel schleppen muss. In der „Familie“ hilft man sich eben.
Das RaH, ein etwa 5.000 Besucher*innen fassendes Kleinfestival im ostwürttembergischen Landkreis Heidenheim (passend für ein Metalfestival, wo wir doch alle angeblich den Teufel anbeten), ist in der deutschen Szene bekannt für seine familiäre Atmosphäre. Mutmaßlich zurückzuführen ist das auf den Ausrichter, den Verein Jugend Dischingen. Auch wenn die Gründer von 1997 nicht mehr ganz so jung sind; auch wenn die Organisation des Festivals professioneller geworden ist – ja werden musste –, der Charme des Festivals ist derselbe geblieben.
Wer auf das Line-up blickt, dürfte jedes Jahr aufs Neue staunen. Ob Iced Earth, Blind Guardian oder Children Of Bodom; ob Alice Cooper, Within Temptation oder Doro. Viele metallische Urgesteine und unumstrittene Topbands waren schon hier, einige von ihnen mehrfach. Heuer stehen unter anderem In Extremo, Kissin‘ Dynamite und Die Apokalyptischen Reiter im Programm.
Brezn im Tausch für Dosenbier
Zwei Abende, zwölf Bands, ein Festzelt. Das Ticket ein Drittel von dem fürs Wacken Open Air, das Bier kostet drei Euro. Ein super entspanntes Team aus Ehrenamtlichen und ein ebenso gemütliches wie treues Publikum, das seinen Müll am Ende ohne großes Bitten und Betteln der Veranstalter*innen entsorgt (das Campinggelände grenzt an ein Naturschutzgebiet). Dafür kommen die Größen der Szene, kommen Jung und Alt, kommen Familien – oder formen sich eben aus Gleichgesinnten. 2016 war die Rechtsrockband FreiWild zu Gast, da sind viele Stammfans aus Protest zu Hause geblieben.
Seit meinem ersten Besuch 2012 steht das RaH bei mir als fester Termin im Jahreskalender. Nicht jedes Guppenmitglied schafft es jedes Jahr hin, das macht aber nichts; was zählt, ist die Gesamtatmosphäre. Mal sind es darum acht, mal 15, mal 20 Leute. Altersspanne: Mitte Zwanzig bis Mitte Fünfzig (inklusive erwachsener Kinder). In der gemeinsamen WhatsApp-Gruppe wird Monate im Voraus auf das verlängerte Wochenende hingefiebert, am Tag danach wiederum gleich der Gruppenname an das kommende Jahr angepasst. Nach dem RaH ist vor dem RaH.
Feste Festivalgruppen und ihr Rahmen sind tatsächlich in gewisser Weise wie eine Familie: Man kann sich lange nicht gesehen haben und trotzdem sofort anfangen zu reden, kann ohne Small-Talk-Geplänkel Geschichten austauschen. Was hier auch möglich ist: dass ein Mitorganisator des Festivals, mit dem man sich angefreundet hat, morgens eine Papiertüte frische Brezn aus der örtlichen Bäckerei vorbeibringt. Er weiß, wo er uns findet. Bezahlt wird in Dosenbier.
Kennengelernt hatten wir uns als Gruppe 2012 über zwei befreundete Kollegen. Es passte. Man verstand sich. Leute kamen dazu, andere gingen. Inzwischen besuchen wir uns zwar auch gegenseitig in den jeweiligen Arbeits- und Ausbildungsstädten, gehen auf Hochzeiten, waren auf diversen anderen Festivals. Das „Rock am Härtsfeldsee“ ist aber nach wie vor der gemeinsame Höhepunkt des Jahres. Als wir heuer mit einem kühlen Getränk in der Hand um einen Campingtisch sitzen und über das diesjährige Line-up reden, meint einer: „Eigentlich bin ich ja nicht primär wegen der Bands hier, sondern wegen Euch.“
Bildstrecke: einige Eindrücke vom „Rock am Härtsfeldsee“ 2019:
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