Online

Manisch depressive Innigkeit

Nancy.Interview: Ausdruckstanzwut unter dem Stern der Anarchie

Die Münchner Opernfestspiele 2013 stehen diesjährig im Zeichen der „Stimme des Volkes“. Die vox populi- Projekte versuchen, sich auf experimentelle Weise zwischen Hoch- und Popkultur zu bewegen. Die diesjährigen Projekte zögern nicht durch ihre Umsetzung und ihre Thematiken das klassische Opernpublikum zu provozieren. So wurde etwa ein kleines Ensemble des Nowy Teatr Warschau nach München eingeladen, um in der „Bayerischen Akademie der Schönen Künste“ das anarchische Tanzstück „Nancy.Interview“ aufzuführen.

Foto: Magda Hueckel
Foto: Magda Hueckel

Der französische Choreograf Claude Bardouil interpretiert in Nancy.Interview die tragische Liebesgeschichte um Sid Vicious, dem Bassisten der legendären britischen Punkband Sex Pistols und seiner Verlobten Nancy Spungen, in einer gewagten Mischung aus Tanz und Theater. Im Fokus steht allerdings nicht Sid (Bardouil) sondern Nancy, gespielt von der Film- und Theaterschauspielerin Magdalena Popławska, die in ihrer polnischen Heimat bereits als aufstrebender Star gefeiert wird.

Nancy Spungen, ein als schizophren diagnostizierter Teenager aus Pennsylvania, beschließt mit 17 Groupie zu werden. Als sie Sid Vicious kennenlernt, wird sie nicht bloß seine Partnerin, sondern zur Punk-Ikone stilisiert. Doch ihre Beziehung nimmt ihr Ende, als die 20-jährige mit einer Stichwunde im Hotel Chelsea in Manhattan 1978 tot aufgefunden wird. Sid, der wegen des Mordes an seiner Verlobten angeklagt werden soll, stirbt nur wenige Monate später an einer Heroinüberdosis.

Am dritten und letzten Abend des Gastspiels, dem 13. Juli, ist nur ein kleines Publikum in der Münchner Residenz versammelt, und Laufe des Abends soll es noch kleiner werden. Das Bühnenarrangement besteht aus einem „Wohnzimmer“, einer „Tanzfläche“ und einer „Showbühne“. Kinoleinwand, Flachbildschirme, eine professionelle Filmkamera, Spiegel, sowie zwei am linken Ende der Bühne sitzende Musiker erwecken Neugierde. Die zeitgenössische, vielversprechende Kulisse beißt sich allerdings mit dem Dekor des denkmalgeschützten Saals: Stuck und Kronleuchter wirken deplaziert.

Das Stück beginnt, man sieht ein androgyn anmutendes Mädchen, sie hat dunkles, halblanges Haar, trägt schwarze Lederjacke, locker sitzende Jeans, viel zu große Herrenschuhe. Sie setzt sich in einem Stuhl und blättert durch ein Magazin. Wie Voyeure können die Zuschauer alles was Nancy tut sehen. Die Nahaufnahmen, die ein Kameramann filmt, fangen die Emotionen ihres Gesichts ein, werden in Echtzeit auf die diversen Bildschirme übertragen. Irgendwann hält sie inne, fokussiert und beginnt das Foto eines Mannes zu küssen, abzulecken. Sie reißt das Bild heraus, klebt es auf ihren Finger, stülpt ein Kondom drüber und benetzt es mit Gleitmittel, sie knöpft ihre Hose auf, fasst sich in den Schritt, ihr Körper bebt, ihr Gesicht ist verzerrt. Als sie fertig ist, setzt ihre Kopfhörer auf: wir hören laute Punkklänge, sehen wie Nancy, sich selbst feiernd, wild durch den Raum tanzt. Ein Blick auf die Gesichter im Publikum reicht aus – die erste Provokation hat durchaus ihre Wirkung gezeigt.

 Sid tritt auf, sie nähern sich an, Nancy imitiert seine Bewegungen, es wirkt, als wolle sie wie er sein. Sid befreit Nancy von ihrer burschikosen Perücke–eine blonde, wilde, lockige Mähne tritt zum Vorschein. Eng umschlugen, fast wie Schlangenmenschen, tanzen sie und berühren sich zunehmend intimer, bis sie sich auf dem Boden in erotisch-ekstatischen, leidenschaftlichen Bewegungen wälzen. Diese Bilder, die den Akt des Koitus imitieren, wirken explizit anrüchig, nahezu pornographisch, doch alles andere als billig, eher befremdlich und berührend.

Foto: Magda Hueckel
Foto: Magda Hueckel

Der Zuschauer wird Zeuge von Selbstverletzung, den gemeinsamen Herointrips des Paares, den Fluchtversuchen aus dem Jetzt. Währenddessen ertönt Nancys Stimme aus dem Off in einer narkotischen Endlosschleife: „the world is holy, the skin is holy (…)“. Szenen wiederholen sich, in denen sich Liebe und Leidenschaft in Verzweifelung oder Hass verwandeln, wenn Sid beispielsweise seine Nancy wie eine leblose Puppe ziel- und rastlos durch den Raum trägt, zerrt, sie über den Boden schleift. Zu diesem Zeitpunkt verlassen zwei schockierte Zuschauer den Saal.

 Sex, Drogen und Gewalt werden zu einer repetitiven Monotonie, untermalt von ebenso immer wiederkehrenden, rauen elektronischen Beats oder live auf der Gitarre sanft gezupften, jazzigen Arpeggio-Akkorden – die sich stellenweise zu dröhnenden power-chords dynamisch transformieren – und Schwarz-Weiß-Aufnahmen von tobendem Rockkonzertpublikum, sowie den candid close-ups, welche Nancys entfremdetes Inneres projizieren.

In einer bedrohlich wirkenden Tanzwut und Freizügigkeit headbangen Sid und Nancy minutenlang, ununterbrochen im Exzess des Punks. Bardouil, dem Publikum mit seinem nacktem Oberkörper gefährlich nahekommend, könnte dabei selbst einen Iggy Pop in Bestform in den Schatten stellen. Die Zuschauer und Darsteller werden von Momenten der ziellosen, autoaggressiven Selbstdarstellung übermannt.

Foto: Magda Hueckel
Foto: Magda Hueckel

Verweint blickt sie ins Publikum und schnaubt: „I’m not one of your clowns, I’m one of you.“ In die Kamera blickend, fragt sie zuletzt verzweifelt: „You didn’t forget me huh?“ Trotz zahlreicher aufbrausender Momente im Verlauf des Stücks bleibt dem Publikum eine abschließende blutrünstige Mordszene im Sinne Büchners erspart.

Zwischen Punk-Rockperformance, Ausdruckstanz und geständigen Videogroßaufnahmen, wirkt „Nancy.Interview“ wie eine Dokumentation, die einem jenseits des Mythos um die amants terribles Sid und Nancy, die ungeschönte, nackte, nahezu banale Realität um die Zerstörungswut des Sinnenrausches zu zeigen vermag. Alles andere als jugendfrei, ist das wortkarge Stück wohl recht harte Kost, doch es animiert zum Nachdenken und berührt auf peinliche Weise. So ertappt man sich als Zuschauer immer wieder, wie man mit einem lachenden und einem weinenden Auge mitfühlt mit dieser Nancy, die von einer genialen, authentischen Magdalena Popławska verkörpert wird und ihr Publikum mit der Mystik einer Tilda Swinton und der Zerbrechlichkeit einer Cate Blanchett verzaubert.

Der Abend macht Lust auf weitere Gastspiele des Warschauer Nowy Teatr. Zartbesaiteten Zuschauern ist jedoch zu raten, künftig vorab das Programmheft genauer zu lesen, um nicht während eines Stücks aus dem Saal stürmen zu müssen.

Einen kurzen Trailer zu Nancy.Interview findet ihr unter folgendem Link:

http://www.youtube.com/watch?v=tF0Z8k742vo

Für dich vielleicht ebenfalls interessant...