Rezension

Hinter geschlossenen Türen

Für Christiane Mudras‘ Dokumentartheater-Abend Selfie & Ich muss man sich warm anziehen. Nicht nur da inhaltlich vieles auf einen zukommt, sondern auch weil die Zuschauer*innen sich im Laufe des Theaters von Privatwohnung zu Privatwohnung in Haidhausen bewegen, um dort einen Einblick in das Leben und die Psyche der Protagonist*innen zu bekommen.

Melda Hazırcı zeigt, mit welchen Problemen und Ängsten Personen zu kämpfen haben, die unter Anorexie leiden. Im Hintergrund das Leitmotiv des Stücks: Die Winkende Katze. ©Verena Kathrein

Von Nicolas Friese

Für das Stück, welches der erste Teil einer Trilogie ist, die sich mit der „De-Facto-Bewertung“ von Menschen innerhalb der sogenannten Wertegemeinschaft auseinandersetzt, hat sich Christiane Mudra mit Menschen und deren psychischen Erkrankungen auseinandergesetzt. Dabei rücken vor allem Druck und Erwartungen in den Vordergrund, die von der Leistungsgesellschaft ausgeübt werden. Der Unterschied zwischen Schein und Sein spielt bei den Protagonist*innen eine entscheidende Rolle. Dabei wird vor allem auf das Phänomen der Selbstdarstellung in den sozialen Medien aufmerksam gemacht. Gezeigt wird dabei, wie die Protagonist*innen nicht nur bei der Arbeit, sondern auch rund um die Uhr in den Sozialen Medien unter großem Leistungsdruck leiden. Zur Vorbereitung hat Mudra viel Recherche betrieben. Das Stück basiert auf Interviews mit Menschen, die mit einer psychischen Erkrankung leben. Die betroffenen Personen bleiben jedoch komplett anonym.

Kurz bevor das Stück losgeht bekommen die Zuschauer*innen jeweils ein Paar Kopfhörer, die bei der gesamten Dauer des Stücks aufbehalten werden. Dann geht es schon in die erste Wohnung. Über die Kopfhörer wird eine Tonspur abgespielt, auf der die Performer*innen ihre Erfahrungen, Ängste, Wünsche und Gedanken teilen. Das Publikum erhält direkt ungefilterten Einblick in die Gedankenströme.  Die Protagonist*innen befinden sich zur gleichen Zeit in den Wohnungen und zeigen, wie Teile des Alltags einer betroffenen Person aussehen können.

In der ersten Wohnung bekommt man von Gabriele Graf als „Sonja“ einen kurzen Einblick in das Leben einer Person, die unter einer Alkoholsucht leidet. Dabei wird immer wieder auf den sozialen Druck und auf die gesellschaftliche Akzeptanz von Alkohol aufmerksam gemacht. Während man dann zur nächsten Wohnung geht wird auf den Kopfhörern eine Tonspur abgespielt, auf der aus einer Patientenakte von einem Mann mit der Diagnose Schizophrenie vorgelesen wird. Bei den kurzen Spaziergängen zwischen den Wohnungen wird die Geschichte des Patienten erzählt, der zwischen 1938 und 1984 in verschieden psychiatrischen Anstalten war. In der zweiten Wohnung spielt Murali Perumal einen jungen Mann, der unter einer Depression bzw. unter einem Burn-Out leidet. Als nächstes führt der Weg in Bekleidungsgeschäft für Kinder. Dort gibt Sebastian Gerasch einen Einblick in den Alltag einer Person, die unter einer manisch paranoiden Schizophrenie leidet. Als letztes zeigt Melda Hazirci, mit welchen Problemen und Ängsten Personen zu kämpfen haben, die unter Anorexie leiden. Spannend ist außerdem, dass sich in jeder Wohnung die Figur eine japanische Manekineko befindet. Die winkende Katze ist ein beliebter Glücksbringer, die Glück und Wohlstand herbei bringen sollen.

Die Umsetzung des Konzepts gelingt durch die räumliche Nähe sehr gut. Dadurch, dass es keine abgetrennte Bühne gibt, bekommen die Besucher*innen einen sehr nahen und intensiven Eindruck des Stücks. Durch diese Nähe können die Zuschauer*innen voll und ganz in die Problematiken eintauchen und bis zu einem gewissen Grad mitfühlen. Mudra gelingt es das oberflächliche Bild, das psychisch Kranke oftmals versuchen nach außen aufrechtzuerhalten, durchzubrechen.

Selfie & Ich, 24. Nov bis 4. Dez, Dienstags bis Sonntags jeweils 18 und 19 Uhr. Tickets hier.

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