Rezension

„Wir sind alle Hinterbliebene desselben Traums“

Vor dem Hintergrund einer Liebesbeziehung behandelt Wajdi Mouawads „Vögel“ generationsübergreifendes Trauma und die Identitätssuche im Lichte des Nahostkonflikts. Das Münchner Metropoltheater bringt das Stück mit viel emotionaler Tiefe auf die Bühne.

Zwischen Wahida (Magdalena Laubisch) und Eitan (Leonard Dick) funkt es von Anfang an. Bildbenennung (v.l.n.r), Foto: Metropoltheater München/Fotograf: Jean-Marc Turmes

Von Felix Meinert

Schon als sich Eitan (Leonard Dick) und Wahida (Magdalena Laubisch) in einer New Yorker Universitätsbibliothek kennenlernen, ist da die Frage nach dem Ursprung. Der verkopfte Biogenetiker Eitan ist überzeugt, ihre Begegnung müsse dem Big Bang geschuldet sein – nicht etwa dem Zufall. Wenn doch, müsse er sein gesamtes Weltbild überdenken, erklärt er der amüsierten Wahida erratisch. Die beiden verlieben sich: er, ein Berliner jüdischer Herkunft, sie, eine arabischstämmige US-Amerikanerin. Ihre Beziehung wird zum Ausgangspunkt einer verhängnisvollen Suche nach familiären Wurzeln und der eigenen Identität.

Rund um dieses Liebespaar entfaltet sich die Handlung des Dramas „Vögel“ des libanesisch-kanadischen Autors Wajdi Mouawad. Das Münchner Metropoltheater bringt nun unter der Regie seines Mitbegründers und Intendanten Jochen Schölch das Stück auf die Bühne – und überzeugt am Premierenabend mit einer emotional vielschichtigen Inszenierung.

„Ein modernes ‚Romeo und Julia‘“

Dass das Metropoltheater „Vögel“ als „ein modernes ‚Romeo und Julia‘“ beschreibt, dürfte weniger überspitzte Werbung sein als ein Hinweis auf eine Beziehung, die durch familiären Zwist und politische Konflikte zum Scheitern verurteilt ist. Schon Eitans Versuch, Wahida seinen Eltern vorzustellen, misslingt. Mutter Norah (Anastasia Papadopoulou) und Vater David (Michele Cuciuffo) sind empört, als sie erfahren, dass die Geliebte ihres Sohnes Araberin ist. Für Eitan wird das zum Anlass, mehr über die Geschichte und die verdrängten Wahrheiten seiner Familie zu erfahren. Gemeinsam mit Wahida reist er nach Israel, wird jedoch bei einem Bombenanschlag an der Grenze zu Jordanien schwer verletzt. Nun liegt es an Wahida, Eitans gespaltene Familie um dessen Krankenbett zusammenzuführen.

Die Erzählung verläuft nicht linear, sie ist von Zeitsprüngen und Ortswechseln geprägt. Von New York über Berlin nach Israel wird das Bühnenbild – ein langer Tisch mit Stühlen, einer Leinwand und ein Aschekreis, der sich wie ein Teppich über den Boden erstreckt – jedoch kaum verändert. Alles geschieht nebeneinander, unmittelbar, im Hier und Jetzt – und kontextualisiert so die jahrelange, generationsübergreifende Identitätssuche einer Familie im Lichte  des israelisch-palästinensischen Konflikts.

Das erste Wiedersehen der Familie seit 35 Jahren

Als Großeltern, Eltern und Sohn sich wiedersehen, ist es das erste Mal seit fünfunddreißig Jahren, dass die Familie vereint ist. Davids Mutter Leah (Sarah Camp) war nach der Scheidung von seinem Vater Etgar (Wolfgang Jaroschka) nach Israel gezogen und nahm seit Davids Jugend keinen Kontakt mehr mit der Familie auf. Ihren Enkel Eitan lernte sie bis jetzt nie kennen. Die Entfremdung zwischen den Familienmitgliedern wird von Wut und sardonischem Humor übertüncht. Besonders zerrissen wirkt David, welcher sich an seinen Hass gegen Araber*innen klammert, als wäre dieser die einzige Antwort, die er kenne – vielleicht, weil man ihm nie andere Antworten gab.

Doch Eitan, der sich von seiner Verletzung wieder erholt, bohrt weiter nach der Wahrheit. Allmählich wird klar, dass sein Vater David kein Jude ist, sondern ein palästinensischer Bauernjunge, den Etgar nach einem Anschlag vor fünfzig Jahren in einem eroberten Dorf fand und adoptierte. Mit dieser Wendung scheint der Autor des Stücks sein eigenes Trauma aufzuarbeiten: Als Kind wurde Wajdi Mouawad Zeuge des Angriffs einer christlichen Miliz auf palästinensische Zivilist*innen, der als Auslöser des Bürgerkriegs im Libanon gilt. Die Aufarbeitung dieses Erlebnisses prägt noch immer sein Werk, wie er selbst beschreibt: „Bei allem, was ich schreibe, geht es nur darum.“

Etgar (Wolfgang Jaroschka) eröffnet seinem Sohn David (Michele Cuciuffo) dessen wahre Herkunft. Bildbenennung (v.l.n.r), Foto: Metropoltheater München/Fotograf: Jean-Marc Turmes

Ein Leben dazwischen

Auch den dargestellten Beziehungen mangelt es nicht an persönlichem Detail oder emotionaler Tiefe. Die Charaktere halten sich an ihren eigenen Gewissheiten fest. Der Holocaust-Überlebende Etgar übertragt seine Lehren aus dem Konzentrationslager auf heute. Wahida schreibt ihre Doktorarbeit über den marokkanischen Diplomaten Hasan Ibn Mohammed al Wazzan, der im 15. Jahrhundert zum Christen bekehrt und dem Papst als „Geschenk“ überreicht wurde. Die Figur verkörpert „ein Leben dazwischen“, wie es Wahida – die sich mit gebleichter Haut und blondierten Haaren einem westlichen Schönheitsideal anpasst – selbst führt. Erstaunlich ist, wie die vulgäre Leah eine fast mütterliche Nähe zu Wahida entwickelt, die sie ihrem eigenen Sohn David stets verweigerte.

Die Multidimensionalität der Beziehungen kommt dank des Humors, der Leidenschaft und Körperlichkeit der Schauspieler*innen eindrucksvoll zur Geltung. Herausragend ist dabei Michele Cuciuffo, in dessen Figur David sich der schizophrene Hass zwischen den Völkern ebenso verdichtet wie die Möglichkeit der Versöhnung. Insofern erinnert die Botschaft des Stückes auch an „Nathan der Weise“. Als er von seiner wahren Herkunft erfährt, ist David ungläubig. Doch den Schmerz, den er fühlt, sein inneres Ringen interpretiert er als „zum Unglück verkleidete Liebe“. In seinen Augen flackert ein Licht, er sieht Gott vor sich, wenig später ist er tot. Er, Jude und Araber zugleich, wird zur Verkörperung der namensgebenden Vögel, die sich der Sehnsucht nach dem Anderen hingeben, voller Ekstase ins Wasser eintauchen und sterben.

Leah (Sarah Camp) und Eitan (Leonard Dick) im Moment von Davids (Michele Cuciuffo) Tod. Metropoltheater München/Fotograf: Jean-Marc Turmes

Jochen Schölchs Inszenierung bleibt sehr nah am Original. Für verschnörkelte Umdichtungen des Textes bleibt bei der Komplexität der Handlung anscheinend kein Raum. Dafür hat „Vögel“ zu viele Ebenen; es ist direkt und meta zugleich, persönlich und abstrakt. Allein die Nebenhandlung um die romantische Annäherung zwischen Wahida und einer israelischen Soldatin, die Schölch in seiner Inszenierung übernimmt, wirkt ablenkend und aus dem Kontext gerissen.

Am Ende bleiben offene Fragen und die Chance der Versöhnung

Die große Stärke dieses Stücks ist, dass es Interpretationsspielräume öffnet. Dass es wichtige und hochaktuelle Fragen stellt, auf die weder Mouawad selbst noch Schölchs Inszenierung Antworten liefern können: Was ist ein Migrant? Wer definiert Identität? Gibt es ein Leben dazwischen? Als Großvater Etgar über das generationelle Trauma spricht, das familiäre und politische Schuld ausgelöst haben, antwortet der Wissenschaftler Eitan: „Leid wird nicht vererbt.“ Doch diese Sicht überzeugt nicht, sie wird der Ambiguität des Stücks nicht gerecht. Vielmehr wirken die Charaktere am Ende ihrer Reise, wie es Etgar beschreibt, wie „Hinterbliebene desselben Traums“ eines friedlichen Zusammenlebens, vereint in ihrer ziellosen Sinnsuche.

Auch die Beziehung zwischen Eitan und Wahida zerschellt an den Mauern, die zwischen Gruppen konstruiert werden. Doch ihre Trennung ist von Dankbarkeit und Versöhnung bestimmt. Eitans Versprechen an seinen verstorbenen Vater, keinen Trost zu finden, solange Zwietracht zwischen den Völkern herrsche, mutet unerwartet idealistisch an. Doch vielleicht braucht es Idealismus, um zu heilen, um Frieden zu schließen. Mit den anderen und mit sich selbst – wer auch immer dieses Selbst am Ende sein mag.

„Vögel” wird noch bis zum 27. November zu verschiedenen Terminen im Metropoltheater aufgeführt. Studierende können ermäßigte Karten erhalten. Die Vorstellung am 26. November findet mit Live-Gebärdensprachdolmetschen und Live-Audiodeskription statt. Infos zu Tickets finden sich auf der Website des Metropoltheaters.

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