Seit mehr als 40 Tagen gehen die Menschen im Iran auf die Straße und protestieren gegen das Regime. Eine Lesung der Münchner Kammerspiele gedenkt den Opfern und ruft zu internationaler Solidarität auf – über den Aufbruch im Iran.
Von Stefania Plougarli
„Jina, Liebste, du stirbst nicht. Dein Name wird ein Symbol werden.“ Dies sind die Worte, die auf dem Grabstein von Jina (Mahsa) Amini stehen, die von der iranischen Sittenpolizei getötet wurde. Ein Symbol für das Leiden unter einem repressiven und mörderischen Regime, aber zugleich auch ein Symbol der Freiheit, des Lebens, des Aufbruchs und der Revolution. Ein Symbol, das stark genug ist, um Menschen weltweit zu Demonstrationen und Protesten zu mobilisieren, und um sie an diesem Montagabend auch in die Therese-Giehse-Halle der Münchner Kammerspiele zu führen. Dementsprechend sind es auch die Worte auf dem Grabstein Jina Aminis, die als eindringlicher Auftakt durch den Saal hallen und die Solidaritätslesung zu den Geschehnissen im Iran einläuten.
Bereits vor Beginn der Lesung ist die Eingangslobby voller Menschen, Iraner*innen und Deutsche, allgemein Interessierte und Engagierte, die die Situation im Iran beschäftigt. Als eine Art selbstorganisierte Reaktion auf das lange Schweigen der Medien und Politik bietet die Solidaritätslesung einen Raum für die Stimmen und Texte von iranischstämmigen Autor*innen und Journalist*innen, unter ihnen Natalie Amiri, Avin Khodakarim, Maral Keshavarz, Anisa Jafarimehr und Mehdi Moradpour – und die Möglichkeit für das Publikum zuzuhören und zu lernen.
Den Anfang der Lesung setzt Wiebke Puls, die mit eindringlicher Stimme den Nachruf auf Jina Amini von Autorin Ronya Othmann aus der FAZ vorliest und bei den Zuschauenden sofort Gänsehaut verursacht. Schon zu Beginn der Lesung wird klar, dass es bei den Protesten nicht nur um den Kopftuchzwang geht, sondern, dass es sich dabei lediglich um die Spitze des Eisbergs handelt. „Es geht um mindestens 43 Jahre der systematischen Unterdrückung“, liest so auch zum Beispiel Avin Khodakarim, Studentin und freie Journalistin, aus ihrem Artikel „Wir Löwenfrauen“ vor.
Darauf folgt ein Auszug aus dem Buch der ARD-Moderatorin Natalie Amiri, in dem sie von der explosionsartigen Mobilisierung der iranischen Mittelschicht 2009 zur sogenannten Grünen Revolution erzählt. Amiri war zu diesem Zeitpunkt selbst vor Ort und hat über die gewalttätige Niederschlagung der Demonstrationen, die Verhaftungen und Folterungen durch das Regime berichtet. In vielen Aspekten ähneln sich die aktuellen Proteste mit denen der Jahre zuvor; Iraner*innen gehen mutig auf die Straßen und bezahlen mit Leib und Leben für ihren Widerstand gegen die Regierung. Dieses Mal jedoch wohnt den Protesten eine andere Intensität und Wucht inne, es werden nicht mehr nur Reformen gefordert, sondern der endgültige Fall der Diktatur.
Weiter wird auch die Kurzgeschichte der kurdisch-iranischen Schriftstellerin Anisa Jafarimehr vorgelesen, die von ihren eigenen Erfahrungen in einem iranischen Gefängnis handelt. Darin berichtet sie von der menschenverachtenden physischen und sexuellen Misshandlung, derer sie dort aufgrund ihres politischen Engagements ausgesetzt wurde. Die Kurzgeschichte wird auf Kurdisch, Farsi und schließlich auch auf Deutsch vorgelesen und betont so die intersektionalen Schnittpunkte der Proteste im Iran. Jina Amini vereinte mehrere Feindbilder des Regimes in sich; sie war nicht nur Frau, sondern auch Kurdin, und in den Augen der Diktatur deshalb umso verhasster.
Die literarische Kombination aus biographischem Material, journalistischen Artikeln und Kurzgeschichten beleuchtet auf vielfältige Art und Weise die aktuellen Geschehnisse im Iran, sie entsetzt und schreckt auf, sie radikalisiert dahingehend, dass man nicht mehr die Augen davor verschließen kann. Es sind zudem auch persönliche Einblicke in die aktuelle Emotionslage iranischstämmiger Personen, ihrer Ängste um Familie, Freund*innen und auch ihrer selbst; was die Zukunft bringt, wenn das iranische Regime weiterhin entführt, foltert und hinrichtet – aber auch was die Zukunft bringt, wenn die Revolution erfolgreich ist und die Mullahs gestürzt werden können.
Einigen Journalist*innen zufolge ebben die Proteste nach und nach ab. Diese Lesung jedoch überzeugt auf inspirierende Art und Weise vom Gegenteil. Am Tag der Lesung handelt es sich bereits um den 38. Tag in Folge, an dem im Iran Menschen aufbegehren – ein Ende ist bislang noch nicht in Sicht.
Abschließend appelliert Mehdi Moradpour mit klaren und bewegenden Worten an das Publikum, den Kämpfen der iranischen Bevölkerung weiterhin Aufmerksamkeit zu schenken und auf sozialen Medien aktiv zu sein. Ziel der Lesung war es, zu langfristiger Solidarität mit den Protestierenden aufzurufen. „Es hilft, wenn wir reden. Es hilft, wenn wir Beiträge teilen und verbreiten.“ Als Schallverstärker aus dem Ausland können wir alle dazu beitragen, dass das Interesse der Welt am Iran nicht verloren geht und die Revolution gelingt.
An dieser Stelle soll auf die unermüdliche Berichterstattung und Aufklärungsarbeit von Düzen Tekkal, Gilda Sahebi und Avin Khodakarim (und vielen weiteren) hingewiesen werden, aus der die Autorin des Artikels einen Großteil ihres Wissens über die Lage im Iran geschöpft hat.