Essay

Der Traum vom Fliegen

Ein Text über kleine Sprünge und große Wahrheiten.

Illustration: Bianca Isack

Von Johanna Mayer

Als ich ein Kind war, hatte ich ein beträchtliches Übermaß an Fantasie. Im Alter von fünf Jahren war ich tatsächlich über mehrere Monate hinweg davon überzeugt, dass ich – im Geheimen – magische Kräfte hätte und fliegen könnte. Stundenlang sprang ich, wenn niemand zuschaute, von einem kleinen Klettergerüst und versuchte, die Zeit zu stoppen. Allerdings nicht mit einer Stoppuhr, nein, sondern indem ich selbst die Sekunden zählte! Ich wollte beweisen, dass ich jedes Mal, wenn ich sprang, länger in der Luft blieb. Je öfter ich sprang, so dachte ich, desto langsamer würde ich fallen, um schließlich beim achtundneunzigtausendstensiebenhundertdreizehnten Sprung ganz in der Luft schweben zu bleiben und fröhlich davon zu fliegen. Dass ich jedes Mal gleich schnell fiel und – wie jedes fallende Objekt auf dieser Erde – noch im Sprung zum Opfer der Schwerkraft werden würde, das begriff ich erst viel später. Nichtsdestotrotz waren meine geheimen Zauberkräfte für mich damals keine Einbildung, sondern ich glaubte wirklich daran, dass dies die Realität, dass dies echt war.

Es dürfte offensichtlich sein, dass es sich mit unserer Realität und mit dem, was echt ist und was nicht, etwas anders verhält, als in meiner damaligen Vorstellung. Als real gilt, was nicht herbei illusioniert ist und auch nicht auf Wünschen oder bestimmten Überzeugungen fußt. Die Realität ist damit etwas, was wohl niemand von uns je glasklar vor Augen haben wird: Sind wir nicht alle von irgendetwas überzeugt, wünschen wir uns nicht alle sehnlichst etwas – egal was?

Unser Wunsch danach, dass unsere Überzeugungen wahr, dass sie echt sind, ist wohl häufig stärker als das, was wirklich da, was real ist. Das kleine Wörtchen „echt“ scheint in diesem Zusammenhang etwas komplizierter als der Begriff „Realität“. Nicht nur in seiner Definition, sondern auch in seiner Bedeutung: Echt ist etwas, wenn es nicht vorgetäuscht, nicht scheinbar und damit nicht erdacht oder erfunden ist. Eine Sache ist echt, wenn sie für uns wahr ist. Doch wer bestimmt, was für uns Wahrheit ist? Und ist Wahrheit Wirklichkeit? Ist Wirklichkeit Realität?

Ein Paradoxon: Es gibt offenbar nur eine Realität, in der wir uns alle befinden und in der wir leben. Und doch nehmen wir sie unterschiedlich wahr und folgern aus ihr unsere Wirklichkeit, unsere Wahrheit, unser Echt. Das erklärt, warum sich Kinder einbilden fliegen zu können, obwohl dies schon rein physikalisch nicht möglich ist. Die Wirklichkeit, die wir als die unsere wahrnehmen, ist also immer auch an die Erfahrungen und das Wissen geknüpft, das wir im Laufe der Jahre ansammeln. Das heutige Echt unterscheidet sich radikal von dem Echt, in dem wir vor wenigen Jahren gelebt haben.

Und doch ist es mit der Realität und unserer Wahrnehmung wie mit vielen anderen Dingen: Während sich alles im Laufe der Zeit zu verändern scheint, bleibt manches doch immer beim Alten. Heute springe ich nicht mehr von Klettergerüsten und versuche, dabei die Zeit zu stoppen. Ich weiß auch, dass ich (leider) keine Zauberkräfte habe und dass ich nie die Fähigkeit haben werde, aus eigenen Kräften einfach so abzuheben und davon zu flattern. Trotzdem würde ich nicht behaupten, dass ich nicht nicht-fliegen kann. Denn: Zu rennen fühlt sich wie Fliegen an, diesen Text hier mitten in der Nacht fertig zu schreiben fühlt sich wie Fliegen an. Es gibt so vieles, was dem Gefühl vom Fliegen gleichkommt, das ich damals als Kind verspürte, als ich für 0,001 Sekunden in der Luft zu schweben schien.

Und auch, wenn ich in der Realität doch immer mit beiden Beinen fest am Boden bleibe: Das bedeutet noch lange nicht, dass dieses Gefühl des Fliegens, der Schwebezustand und das dabei empfundene Glück, nicht genauso echt sind wie damals auf dem Klettergerüst mein Traum vom Fliegen.

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