Interview

„Welche Aspekte unserer Gesellschaft tragen dazu bei, dass immer mehr junge Menschen psychisch erkranken?“

Immer mehr junge Erwachsene kommen an die Grenzen ihrer Belast­barkeit. Die Zahl psychischer Probleme in dieser Alters­gruppe steigt seit Jahren an. Beate Wilken begibt sich in ihrem neuen Buch „Burnout mit 25?“ auf Ursachen­suche und zeigt die immensen gesell­schaftlichen Anforderungen und Belastungen auf, mit denen 20- bis 30-Jährige konfrontiert werden.

Das folgende Interview wird mit freundlicher Erlaubnis des Kohlhammer Verlags widergespiegelt.

Liebe Frau Dr. Wilken, Sie sind Psychologische Psycho­therapeutin und seit vielen Jahren in eigener Praxis tätig. Wie erleben Sie die jungen Erwachsenen, die zu Ihnen kommen?

Beate Wilken: Die jungen Menschen, die ich in meiner Praxis sehe und auch die, die ich bei meinen Recherchen befragt habe, sind in der Regel Studierende oder stehen gerade am Anfang ihrer Berufs­tätigkeit. Sie sind in relativem Wohl­stand aufgewachsen und von ihren Eltern gefördert worden. Sie sind politisch gebildet und gut informiert und versuchen, den ständig wechselnden Anforde­rungen in Studium und Job gerecht zu werden und ihr Bestes zu geben.

Das hört sich erst einmal alles sehr gut an, oder? Tatsäch­lich geht es aber vielen von ihnen nicht gut. Sie leiden zum Teil unter „Burnout-ähnlichen“ Erschöpfungs­zuständen. Dazu kommen Probleme wie gravierende Selbst­zweifel, Versagens­ängste, das Gefühl nie „gut genug“ zu sein, eine große Angst vor negativen Bewertungen durch andere, Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, das Erleben von Einsamkeit sowie massive Zukunfts­sorgen und -ängste und ein starkes Ohnmachts­erleben angesichts einer nicht mehr als gestaltbar erlebten Zukunft. Immer mehr erfüllen die Kriterien für ernst­zunehmende Angst­störungen und Depressionen. Dieses Phänomen hat mich alarmiert und ich möchte mit diesem Buch darauf aufmerksam machen.

Dass viele junge Menschen schon so früh unter Erschöpfung leiden und auch darüber hinaus­gehende psychische Probleme entwickeln, ist erschreckend. In Ihrem Buch betonen Sie, dass die Gründe dafür nicht allein bei den einzelnen Individuen verortet werden dürfen, sondern auch in den „krank­machenden“ und „erschöpfenden“ Bedingungen unserer gegen­wärtigen Gesell­schaft zu suchen sind. Können Sie das näher erläutern?

Beate Wilken

Da ist zunächst einmal der große Optimierungsdruck, der seit dem Vormarsch neoliberaler Ideen in den 1980er Jahren in unserer Gesell­schaft herrscht. Soziolog*innen sprechen vom Zwang zur Optimie­rung bzw. Selbstoptimierung, um in einer konkurrenzorientierten Welt bestehen zu können. Dieser Druck wirkt sich geradezu toxisch vor allem auf junge Menschen aus. Es gilt bereits seit ihrer Kindheit, stets „Optimales“ leisten zu müssen, um einen guten Schul-, Berufs-, Studien­abschluss zu schaffen und „mithalten zu können“ in unserer Gesell­schaft. Und dieser Druck bezieht sich mittlerweile auch auf nahezu alle Bereiche des Privaten: das eigene Aussehen, den Körper, den Bekannten­kreis, die Partner­schaft, die Ernährung, die Freizeitaktivitäten – ständig erleben sich junge Menschen in irgendeinem der Bereiche als „nicht gut genug“. Social Media und das ständige Vergleichen dort verstärken das: Denn hier gibt es immer die „perfekten Anderen“, denen ihr Leben besser zu gelingen scheint.

Hinzu kommt die Beschleu­nigung unseres Lebens, wir leben heute in ständiger Zeitnot und Zeitknappheit. Schon junge Menschen haben das Gefühl, nie wirklich zur Ruhe zu kommen und nicht genügend Zeit zu haben, um herauszufinden, was sie wirklich in ihrem Leben wollen und was ihre Bedürfnisse sind. Und auch die in den letzten Jahren immens gestiegene Vielfalt der Optionen bei allen Lebens­entscheidungen (Studium, Beruf, Partner­schaft …) stellt einen Belastungsfaktor dar. Diese Vielfalt kann überfordernd sein und zu Orientierungs­losigkeit führen. Auch fördert sie die Angst, bei jeder Entscheidung eine „noch bessere Option“ zu verpassen und dadurch „nicht mithalten“ zu können.

Inwiefern spielt für das Erleben der jungen Menschen ihre Zukunftsperspektive eine Rolle?

Die ökonomischen, sozialen und ökologischen Bedingungen sind für die jungen Erwachsenen von heute deutlich härter als noch für ihre Eltern. Viele fragen sich schon jetzt angesichts von Wohnungs­not und sinkenden Reallöhnen: Werde ich mit meinem Job überhaupt genug Geld verdienen, um davon auf Dauer leben zu können? Angesichts der zunehmend erschöpften Ressourcen unseres Planeten ist vielen der jungen Menschen, die ich befragt habe, bewusst, dass sie das Wachstums­narrativ, mit dem sie und ihre Eltern aufgewachsen sind, in seiner jetzigen Form nicht weiter­leben können. Die globalen „Krisen unserer Zeit“ beein­trächtigen ihre Zukunfts­perspektiven in einem extremen Maße: Beängstigende Szenarien der Klima­katastrophe, weitere ökologische Krisen, die Corona­krise, die bei vielen Spuren hinterlassen hat, die Bedrohungen unserer Demokratien durch zunehmenden Rechts­radikalismus und Autokratismus, Kriege – all diese Entwicklungen nehmen den jungen Menschen die Zuversicht für ihre Zukunft.

Dabei sollten sie in diesem Alter eigent­lich unbeschwert ihr eigenes Leben aufbauen und entwickeln können. Immer mehr junge Frauen erzählen mir, dass sie sich Kinder wünschen, das aber in dieser Welt nicht verantworten können. Von Politik und Gesell­schaft fühlen sich die jungen Menschen regelmäßig übergangen; diejenigen, die politisch aktiv sind, überfordern sich oft in ihrem Aktivismus und verzweifeln daran, „gegen Windmühlen“ anzukämpfen.

Was denken Sie, sollte angesichts dieser Situation getan werden?

„Burnout mit 25?“

Ich habe keine Lösungen. Ich bin keine Politikerin, Ökonomin, Soziologin oder Juristin. Aber ich rege an, Fragen zu stellen. Ich würde mir eine breite öffentliche Diskussion wünschen: Welche Aspekte unserer Gesell­schaft tragen gerade dazu bei, dass immer mehr junge Menschen psychisch erkranken? Und wie können wir eine (noch) lebens­werte Zukunft für junge Menschen erhalten? Dringend notwendig wäre dazu meines Erachtens eine Abkehr von der aktuellen Wachstums- und Steigerungs­logik unseres Denkens und Wirtschaftens, denn diese Logik gefährdet nicht nur die psychische Gesundheit der jungen Generationen, sondern bedroht auch unser aller Zukunfts­perspektiven. Alternative Ideen, die mir im Laufe meiner Recherchen dazu begegnet sind und die ich im Buch auch benenne, erhalten derzeit noch zu wenig mediale Aufmerksamkeit.

Ihr Buch endet mit einem Appell – sowohl an jüngere wie auch an ältere Leser*innen. Wozu fordern Sie auf?

Ich ermutige die jüngeren Leser*innen, offen über ihre Beschwerden zu sprechen und sich darüber mit anderen auszutauschen. Auch ermutige ich sie, sich von schädigenden „musts“ unserer Gesell­schaft zu distanzieren und sich zu erlauben, eigene Ziele und Werte für ihr Leben zu definieren. In Bezug auf ihre Zukunfts­perspektiven rufe ich sie dazu auf, politisch aktiv zu werden: Denn das beste Mittel gegen Angst und Ohnmachtserleben ist es, aktiv gegen die drohende Gefahr zu handeln, und dies am besten in Verbunden­heit mit vielen anderen. Gleichzeitig gilt es, sich bei diesem Engage­ment nicht zu überfordern, auch kleine Erfolge zu „feiern“ und zuversichtlich zu bleiben.

Die Älteren rufe ich auf, mehr Verantwortung für die jüngeren Generationen zu übernehmen und daran mitzuwirken, die hier beschriebenen Belastungen für junge Menschen zu vermindern. Auch sie fordere ich auf, politisch aktiv zu werden – zum Wohle der kommenden Generationen, denn das sind ihre Kinder und Enkelkinder – und dabei ihre eigenen Werte und ihren Lebensstil zu überdenken und zu verändern.

Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!

 

Dr. Beate Wilkens Buch „Burnout mit 25?“ ist 2024 im Kohlhammer Verlag erschienen. 210 Seiten. 26 EUR (inkl. MwSt.). Weitere Informationen.

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