Unileben

„Wir sind keine Feinde” – Ein interreligiöser Dialog

Es ist der 2. Dezember 2023, mitten im Münchner Schneechaos. Wir treffen uns mit Ron Dekel, dem Vorstand für Öffentlichkeitsarbeit beim Verband Jüdischer Studenten in Bayern (VJSB), und mit Talha Koç vom Interkulturellen Dialogzentrum IDIZEM und der IDZEM-Jugend. Im Angesicht des Kriegs in Nahost möchten wir einen sicheren Raum schaffen, um Erfahrungen auszutauschen. Trotz der Widrigkeiten haben es alle ins Gebäude der Evangelischen Studierendengemeinde in der Friedrichstraße geschafft. Die LMU stellte uns für unseren Dialog keinen Raum bereit, weil der Anlass „aus einer politischen Situation” hervorgehe. Stattdessen empfängt uns Hochschulpfarrer Friedemann Steck und hört unserem Gespräch interessiert zu. Auf dem Tisch verteilen wir Obst, Chips und Plätzchen. Allen Gesprächsteilnehmer*innen war es im Vorhinein wichtig zu betonen, dass das Existenzrecht Israels unantastbar und die humanitäre Lage in Gaza untragbar ist. Die Nervosität ist schon an der Tür verschwunden – wir verstehen uns gut. 

Das Gespräch moderierten Alina Cohn und Felix Meinert

Philtrat: Wie ist es euch seit dem 7. Oktober gegangen?

Talha: Ich habe mir zu Beginn unterschiedliche deutsche, türkische und englische Quellen angeschaut. Ich habe festgestellt, dass alle etwas anderes sagen. Durch diese Unwissenheit war für mich klar, ich kann mich eigentlich nicht positionieren. Nur zur Hamas: Denn die war schon vor dem 7. Oktober eindeutig eine Terrororganisation.

Ron: Die Unwissenheit, die du gerade genannt hast, hat am Anfang total dominiert. Ich bin aufgewacht und habe in verschiedenen Chatgruppen gelesen: Krieg in Israel! Wenn man mit diesem Konflikt aufwächst, klingt das, makaber gesagt, erstmal nach daily business. Erst als ich dann die Nachrichten angemacht habe, wurde mir das Ausmaß bewusst. Das war sehr, sehr schockierend. Ich glaube, viele Jüdinnen und Juden hat das extrem irritiert: Israel ist ein Staat, der nach dem Holocaust mit einem Sicherheitsversprechen entstanden ist – und dann konnte dieses Versprechen nicht eingelöst werden. Was aus diesem 7. Oktober resultiert ist, ist ein Unsicherheitsgefühl.

Philtrat: Spürt ihr die kriegerische Eskalation auch in eurem Alltag in Deutschland?

Ron: Mein Eindruck ist, in Deutschland zählt die Meinung einer jüdischen Person zum Nahost-Konflikt total viel. Das meine ich negativ: Wenn man als einzige jüdische Person in der Schule sitzt und zum Nahost-Konflikt gefragt wird, muss man sich erklären. Wahrscheinlich wird es auch Musliminnen so gehen. Und das ist seit dem 7. Oktober exponentiell angestiegen. Selbst mit Freundinnen und Freunden, die deinen Hintergrund kennen, musst du dich manchmal im Namen Israels rechtfertigen. Viele Juden haben zwar entfernte Familie in Israel, aber im Endeffekt sind viele von uns einfach Deutsche. Außerdem finde ich, in den Medien wird es oft so dargestellt, als hätten Jüdinnen und Juden vor dem 7. Oktober keine Angst haben müssen. Viele Menschen tragen zwar eine Kippa, aber ziehen eine Cap darüber an, um es zu verstecken. Seitdem werden aber auch kleinere Symbole öfter versteckt: Ich glaube, viele von uns kennen den Griff an die Brust, um zu schauen, ob die Davidstern-Kette über oder unter dem Pulli ist.

Talha: Wenn mich Menschen nach meiner Meinung fragen, ist mein Appell: Seid vorsichtig mit dem, was ihr teilt! Ein Angriff auf Israel bedeutet übrigens, dass neben Juden auch Muslime, Christen und andere Menschen sterben. Also sollten wir versuchen, auch mal den Blickwinkel zu ändern. Ich war im Juni in Israel und in Palästina. Ich bin auch nach dieser Reise kein Experte. Aber es war eine tolle Erfahrung: Wir haben dort Jüdisches von Juden, Christliches von Christen und Muslimisches von Muslimen erzählt bekommen. So konnten wir uns ein eigenes Bild vom Zusammenleben der Juden und der Araber machen. 

Philtrat: Könnt ihr mehr dazu erzählen, wie ihr das Thema in euren Vereinen behandelt?

Talha: Der Erwachsenenverein IDIZEM organisiert jährlich das IDIZEM Dialog-Dinner. Wir haben uns dieses Jahr dazu entschlossen, auf dieser Veranstaltung das Mikrofon an Gäste verschiedener Konfessionen und Religionen zu übergeben. Die haben sehr schöne Worte gefunden, haben von Brückenbauen und Friedenstiften gesprochen. Der Dialogpreis des BDDI wurde außerdem dieses Jahr an den Rabbiner Gábor Lengyel für seine interkulturelle und interreligiöse Arbeit vergeben. Als Laudator hat er einen muslimischen Menschen ausgesucht. Und ihr Verhältnis war so schön: Der Rabbi hat ihn als seinen „kleinen Sohn“ bezeichnet, er den Rabbi als „Mentor“. Ich bin wirklich stolz, Teil eines Vereins zu sein, der mit solchen Menschen zusammenarbeitet.

Ron: Wir haben uns im Verein viel nach innen fokussiert. Viele von uns haben Familie in Israel oder kennen über Ecken Geiseln oder Menschen, die getötet worden sind. Wegen des Gefühls, sich nirgendwo mehr sicher zu fühlen, war es uns wichtig, einen Ort zu schaffen, an dem man sich treffen kann. Wir haben Shabbats und Spieleabende veranstaltet. Wir haben auch mehrere öffentliche Statements verfasst, aber uns war vor allem wichtig, füreinander da zu sein.

Philtrat: Was erwartet ihr aktuell von der deutschen Zivilbevölkerung?

Ron: (zu Talha) Ich habe das Gefühl, wir werden manchmal dargestellt, als wären wir Gegner. Der Konflikt in Israel und Palästina ist kein Religionskrieg. Im deutschen Diskurs wird jetzt vermeintlich im Namen von Jüdinnen und Juden Politik gemacht und zum Beispiel über Abschiebungen gesprochen. Mir fällt es schwer, dass unsere Positionen so vereinnahmt werden. Ich merke leider auch, dass sich unsere Community von solchen Forderungen spalten lässt. Es gibt deutsche Jüdinnen und Juden, die sich radikalisieren. Ich meine von außen, das auch bei Muslimen sehen zu können.

Talha: Ja, das ist auch bei uns ähnlich. Ein Problem ist auch: Manche Menschen wollen sich kritisch zur Sachlage äußern und gelten aber schnell als antisemitisch. Und irgendwann sagen sie: Dann bin ich‘s halt! Diese Reaktion sehe ich bei Muslimen zum Teil leider.

Ron: Ich sehe das etwas anders. Teilweise äußern sich Menschen tatsächlich antisemitisch. Dann sitzen sie in irgendeiner prominenten Talk-Show und beschweren sich darüber, nichts mehr sagen zu dürfen. Was ich mir wünsche, ist dass die antisemitismuskritische Bildungsarbeit an Schulen gestärkt wird. Dann haben wir eine gemeinsame Basis, auf der wir sprechen können.

Talha: Wir sollten gegenüber beiden Seiten gegenüber Kritik ausüben können, ohne die Freiheit und die Menschenwürde zu gefährden. 

Philtrat: Ihr habt davon gesprochen, dass Minderheiten im deutschen Diskurs gegeneinander ausgespielt würden. Was eint euch denn als Minderheiten in Deutschland?

Ron: Ich merke, meine muslimischen Freundinnen und Freunde verstehen mich oft besser als andere. Für sie ist dieses Leid momentan greifbar. Und: Wenn es sagbar wird, sich feindlich gegenüber einer Minderheit zu äußern, gilt das auch bald für andere Minderheiten.

Talha: Die Torah wird in unserem Glauben gewissermaßen als der Vorgänger des Korans angenommen. Wir glauben eigentlich an den gleichen Gott. Jüdische Menschen fasten genauso wie muslimische Menschen.

Ron: Dafür nur sechs Tage und die vereinzelt. (lacht)

Talha: Und natürlich gibt es auch unterschiedliche Bräuche. Ich bin in Israel in eine Synagoge gegangen. Dort haben ein Gottesdienst und eine Bar Mitzwa stattgefunden. Nach Ende des Gottesdienstes bewirft man den Jungen traditionell mit Süßigkeiten. Ich hatte dafür ein Bonbon in der Hand. Mein jüdischer Sitznachbar, mit dem ich mich unterhalten habe, meinte zu mir: Bitte wirf nicht das! Dann hab’ ich erst verstanden, warum: Die Gäste haben den Jungen mit geleeartigen Süßigkeiten beworfen. Aber ich hatte eine Art Hustenbonbon, also etwas Hartes. (Lachen) Das wusste ich nicht, aber es war eine faszinierende Erfahrung.

Philtrat: Habt ihr in den letzten Monaten Momente gehabt, die euch Hoffnung gemacht haben?

Talha: Unsere Veranstaltungen bei IDIZEM, weil ich gesehen habe: Es gibt jetzt kein Ende von dem, was wir machen, sondern es geht weiter. Meine größte Angst war es, dass nach dem 7. Oktober gemeinsame Arbeit zwischen muslimischen und jüdischen Gemeinden endet. Aber stattdessen wollen wir ein Zeichen setzen: Wir sind keine Feinde, wir sind Freunde, wir sind Brüder. Es gibt Muslime, die sich radikalisieren, das ist auch in der jüdischen Gemeinde so. Wir müssen zeigen, dass man damit einen gewaltigen Fehler macht. Da sage ich auch selbst: Nein, das geht so nicht! Es ist wichtig, dass sich Juden und Muslime in dieser Zeit im Alltag regelmäßig begegnen und auf einer persönlichen Ebene Gemeinsamkeiten finden. Wie Fußball, zum Beispiel, solange man nicht Fenerbahçe-Fan ist. (Lachen)

Ron: Die Zeit nach dem 7. Oktober hat uns im Verband gezeigt, dass wir aufeinander aufpassen, dass wir füreinander da sind. Auf einmal hat man ganz neue Gesichter im Verband gesehen. Wir sind auf eine gemeinsame Seite gewandert, obwohl wir oft verschiedener Meinung sind, haben innerhalb kürzester Zeit Veranstaltungen auf die Beine gestellt. Die zweite Sache ist dieses Gespräch. Hier in München war ein interreligiöses Friedensgebet geplant, was von unserer jüdischen Seite aus abgesagt wurde, weil dort Redner aufgetretenwären, die ganz klar extremistisch, islamistisch sprechen. Dadurch hatte ich das Gefühl, dass wir vielleicht keinen gemeinsamen Nenner mehr mit der organisierten muslimischen Seite finden können. Ich finde, dieses Gespräch zeigt aber, dass das durchaus möglich ist. Ich würde das Allermeiste, was du gesagt hast, direkt so unterschreiben. Das gibt mir wirklich Hoffnung.

Talha: Was mir auch noch einfällt, ist dass die Freunde Abrahams (Anm. d. Red.: ein Verein für interreligiösen Dialog) danach eine Veranstaltung organisiert haben, und zwar einen Schweigemarsch am Odeonsplatz, in Gedenken an alle Kriegsopfer weltweit. 

Philtrat: Habt ihr euch auch manchmal hoffnungslos gefühlt?

Ron: Ich fühle mich manchmal hoffnungslos, wenn ich sehe, dass wir gar keinen gemeinsamen Nenner finden, dass die Gleichzeitigkeit häufig fehlt: gleichzeitig das Leid auf der palästinensischen Seite anerkennen, aber auch ganz klar den Terrorangriff vom 7. Oktober verurteilen. Oder wenn ich merke, dass es an der Basis fehlt: Ich habe das Gefühl, dass die Mehrheitsgesellschaft nicht genug antisemitismus- und rassismuskritische Bildung in der Schule erfahren hat, um sich mit dem Thema differenziert auseinandersetzen zu können. Vor allem, wenn ich Instagram aufmache, überkommt mich das. Deswegen halte ich mich davon zurzeit ein bisschen fern. Von manchen deutschen Politikern fühle ich mich im Moment auf eine gewisse Art gut vertreten, aber über die Gesellschaft mache ich mir große Sorgen.

Talha: Was bei mir Hoffnungslosigkeit auslöst, ist der Generalverdacht. Das Phänomen gab es ja vor dem 7. Oktober schon. Islamistisch ist nicht gleich Islam. Ich glaube, viele Muslime haben es satt, sich und ihren Glauben verteidigen zu müssen. Wir sind Teil der Gesellschaft und finden das alles genauso unvertretbar wie alle anderen Personen der deutschen Gesellschaft. Wir haben nichts mit denen zu tun. Mit der Zeit hat sich meine Hoffnungslosigkeit auf jeden Fall verringert, weil es jetzt wieder mehr Nebeneinander als Gegeneinander gibt.

Philtrat: Habt ihr seit dem 7. Oktober für euch persönlich neue Erkenntnisse gewonnen?

Ron: Was ich mitnehmen werde, ist, dass man bei Freundschaften doch oft auf das „Jüdischsein” und eine vermeintliche Verbindung mit Israel reduziert wird. Ich werde in Zukunft das Gespräch über den Nahost-Konflikt sehr früh in Freundschaften suchen. Ich habe gemerkt, was für obskure Meinungen auch in meiner Bubble vorhanden sind. Ich möchte einfach nicht im Nachhinein von Leuten überrascht werden, von denen ich eigentlich dachte, dass das meine Freunde sind. In meinem Verband kenne ich keine Person, die keine Freunde verloren hat in dieser Zeit. Auf Instagram ist schnell was gepostet, da werden teilweise antisemitische Begriffe verbreitet, ohne ihre Bedeutung zu kennen. Auch der Positionierungszwang ist sehr groß geworden. Vor allem in progressiven Spaces habe ich das Gefühl, dass einem als jüdische Person teilweise die Identität abgesprochen wird: nicht die Verbindung mit dem Staat Israel, sondern mit der Erde dort. Das macht es einem sehr schwer, sich in solchen Spaces zu bewegen. 

Talha: Ich bin gerade erschüttert von dem, was du erzählt hast. Ich finde das schockierend. Die Person kennt dich ja länger als nur seit dem 7. Oktober und hat sich, behaupte ich jetzt mal, eine positive Meinung über dich gebildet. Und packt dich jetzt in eine ganz andere Schublade. Das ist wirklich sehr, sehr schade. (schweigt) Auch in meinem Umfeld habe ich Leute gesehen, die man einfach abbremsen musste. Ich bin mir sicher, viele von ihnen sind unglücklich, dass ich in dieser Situation keine Partei wähle. Ich habe auch von der muslimischen Seite Hass abbekommen. Ich selbst teile diese Meinungen nicht, aber ich kann die Menschen eines Besseren belehren, ihnen sagen, dass das nicht so ist. Falls das nicht geht, muss auch ich mich distanzieren. Es wäre gut, wenn diese Leute einfach mal eine jüdische Person kennenlernen würden, denn viele kennen keine einzige. Allein die Erfahrung, mit Juden im Gespräch zu sein, würde vielen zeigen, dass ihre Vorurteile falsch sind. Aber manche machen leider genau das, was mit uns Muslimen gemacht wird: Man stellt Juden unter Generalverdacht. Ich sehe das ein bisschen als meine Aufgabe, dem entgegenzuwirken. 

Philtrat: Welche Botschaft möchtet ihr über eure Vereine in die Öffentlichkeit tragen?

Talha: Einfach mal unvoreingenommen zusammenkommen. Brücken bauen. Man muss beide Seiten als Menschen betrachten. Wir können die Situation nicht für den Nahen Osten lösen, das schaffen wir nicht. Und auch in Israel und Palästina gibt es viele Vereine von jüdischen und palästinensischen Familien, die sich gemeinsam für das Wohl beider Seiten einsetzen. Aber wir haben auch hier in Deutschland ein Problem, die Situation wird für muslimisches und jüdisches Leben heikler. Indem wir uns jetzt anfeinden, schaden wir uns nur gegenseitig, vor allem als Minderheiten.

Ron: Ich glaube, ich würde es auf drei Sachen runterbrechen. Erstens sind keine Feinde, Muslime und Jüd*innen sind keine Feinde. Zweitens wünsche ich mir, dass man sich vielleicht zweimal überlegt, was man postet und was man sagt. Ob man das gerade wirklich so ausdrücken möchte. Und die dritte Sache ist, dieses gleichzeitige Leid anzuerkennen. Man muss sich nicht positionieren, und wenn man es macht, kann man das trotzdem anerkennen. Ich glaube, wenn man das nicht schafft, werden wir in dieser Debatte nicht weiterkommen.

 

Illustration: Murilo Macena

Das Gespräch erscheint in gekürzter Version in der 33. Ausgabe der Philtrat.

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