Allein zu Haus – in Stockholm
Endlich einmal Weihnachten allein feiern. Einmal an Weihnachten allein sein, dem Stress entkommen. Es ist ja immer eine komplizierte Geschichte: die Pflichten, die Zwänge, überhaupt das „weil ja Weihnachten ist“. Einmal bin ich dem entkommen und habe erlebt, was das eigentlich bedeutet an diesem Familientag allein zu sein. 2010 war das, in Stockholm. Da trotte ich also spät in der Nacht über die Stallbrücke hinein in die Gamla Stan, Stockholms wunderbare Altstadt. Leere Straßen im gelben Laternenlicht. Es ist so kalt, dass die vereisten Schneeflocken beim Aufkommen auf der Erde ein sanftes Flirren erzeugen. Es schluckt jeden Laut, auch ein mutmaßliches Hundebellen in der Ferne. Es sollte eigentlich ein wunderbarer Abend werden, ein magischer. Und doch muss ich gestehen: Ich hatte mir mehr erwartet.
Ganz freiwillig hatte ich mich freilich nicht dazu entschieden. 2010 studierte ich ein halbes Jahr in Lund, einer kleinen Stadt im schwedischen Süden. Malmö war nicht weit weg und nach Kopenhagen dauerte es mit dem Zug weniger als einer Stunde. Etwa 80.000 Einwohner hat Lund, jeder Dritte davon ist Student. Man kann sich vorstellen, was das für meinen Aufenthalt dort bedeutete. Es war eine besondere Zeit, voll Minzschnaps und Snus, aber natürlich auch mit den unausweichlichen Klausuren am Ende. Genauer: im Januar.
Ende Dezember wurde also gelernt. Fest stand aber, dass ich Silvester in Lund feiern würde. Jetzt für zwei Tage schnell über Weihnachten heimjetten hatte keinen Sinn. Sogar mein Korridornachbar (und Mentor) Gunnar reiste ab. Ausgerechnet Gunnar, der sonst keine Gelegenheit ausließ, um kussfreudige Damen auf Partys seinen Bizeps befühlen zu lassen! Ganz allein in meinem Wohnheimkorridor zu hocken und schwedische Gameshows zu kucken, war mir zu dröge. Also ab in die Hauptstadt.
Es sollte die Krönung des besten Semesters meines Studiums werden, in einem besonderen Jahr. 2010, das ist lange her. Das Summen der Vuvuzelas und das Gurgeln eines wütenden, isländischen Vulkans grundierten den Sommer. Haiti, Duisburg, Tunesien. Wulff. Alejandro. Gaga? Meyer-Landrut!
Ohne das ganze weihnachtliche Beiwerk ist nun Platz für die außergewöhnlichsten Erfahrungen. Man verlässt die Geborgenheit der Szenerie um den Christbaum und fordert sein Schicksal heraus. Man stellt sich ja allerhand Sachen vor: boy meets girl – so beginnen gute Geschichten, und die besten beginnen auf Brücken. Und die allerbesten beginnen an Heiligabend. Es fehlt nur eine schwedische Eisprinzessin, von Natur aus wasserstoffblond, mit kaltem, grauem Blick, der ich meinen Bizeps zeigen kann. Ich habe alles vorbereitet für den perfekten Moment, von dem wir – die Eisprinzessin und ich – später einmal unseren hippen, blonden Kindern erzählen können: damals, Heiligabend, auf der Brücke, nur wir zwei – da hat alles begonnen.
Tieferer Sinn, finde mich
Man wünscht sich ja häufig, dass das, was man erlebt, eine tiefere Bedeutung hat. Dass es symbolisch zurückweist auf das Leben, das bis zu genau diesem Punkt rein zufällig verlaufen ist, aber jetzt umschwenkt auf eine sinnvolle Bahn. Man wünscht es sich so sehr, dass man manchmal wirklich daran glaubt. Das ist nur verständlich: Man muss die Erfahrungen, die mit voller Wucht auf einen einscheppern, ja irgendwie gliedern. Sonst würde man wohl wahnsinnig. Und je größer diese Überforderung wird, desto stärker versucht man gegenzusteuern – vielleicht auch unbewusst.
Auslandssemester sind meistens sehr überfordernd. Sie quellen über vor zersplitterten Erfahrungen. Zum Beispiel verbringe ich einmal nach einem Konzert eine Nacht an einem Bahnhof, weil der letzte Zug schon weg ist. Der schwedische Winter kriecht durch alle Kleidungsschichten, doch von einem elektrischen Handtrockner auf der Bahnhofstoilette lasse ich mir warme Luft in den Kragen pusten. Ein anderes Mal bin ich unsagbar peinlich berührt, weil ich beim Anhören von „Deutschland“ von den Prinzen blödsinnigerweise einen Kloß im Hals kriege. Am 24. Dezember gehe ich am späten Nachmittag ins Restaurant. Wie viele Personen, werde ich gefragt. Nur eine, sage ich. Die Samstagnachmittag verbringe ich, in Decken gehüllt, mit schaufelweise Nüssen und Cola, vor einem flimmernden Bundesliga-Stream. Bei Licht betrachtet sind diese Geschichten oft traurig. Erst in unseren Hirnen werden sie verarbeitet zu den typischen megacoolen Erzählungen unserer megacoolen Leben.
Und man wird sentimental, als Deutscher leide ich klassisch am Bullerbü-Syndrom. Astrid Lindgren hat auch eine Weihnachtsgeschichte geschrieben, die nur wenige kennen. Pippi Langstrumpf feiert Weihnachten, heißt sie. Darin kommen, wie könnte das bei Astrid Lindgren anders sein, traurige, aber starke Kinder vor, deren Eltern krank sind oder weit weg. Doch dann kommt Pippi eben die Treppe hochgeritten. Das Fest ist daraufhin dermaßen fulminant gerettet, dass selbst der Christbaum froh ist.
Auch eine Imbissbude taugt als Stall
Doch nun, durch die lampionbehangenen Gassen der Gamla Stan, kommt keine Pippi Langstrumpf geritten. Auch die Eisprinzessin lässt sich nicht blicken. Es gibt kein happy end meiner Geschichte hier, es gibt noch nicht einmal einen Anfang. Das Raster aus Geschichten, das ich mir über meinen Aufenthalt hier geworfen habe, kriegt langsam Risse. Mein Weihnachtsfest ist vor allem eines: eine recht fade Angelegenheit.
Und dann werde ich doch noch entschädigt. Das Warten leid stapfe ich die Altstadt hinab, nach Södermalm, das Glockenbachviertel Stockholms. Für ein paar Kronen kaufe ich in einer jüdischen Imbissbude eine Teigtasche. Ein Moslem aus Syrien überreicht sie mir, einem deutschen Katholiken, hier, im protestantischen Norden. Wahnsinn. Für einen Moment halte ich glücklich inne. Alles macht Sinn. Ich bin einer großen, friedensstiftenden Erkenntnis auf der Spur, kann sie nur noch nicht in Worte fassen.
Zumindest glaube ich das heute. Ganz sicher bin ich mir bei all dem nicht mehr. War es vielleicht doch gar nicht an Heiligabend? Gar nicht in Södermalm, sondern am Hauptbahnhof in München? Und war es vielleicht doch ein von der fettigen Hitze verranzter Dönermann, an den ich da geraten bin und von dem ich mir jetzt im Nachhinein einen aufschlussreichen Blick in die Struktur des Universums erhoffe?
Man merkt schon: Diese Erzählungen sind viel zu kompliziert. Vor allem taugen sie nicht als Schema. In solchen Momenten ist man froh um einfache, klare Gedanken. Kind, Krippe, Stall und Stern, Weihrauch, Gold und Dingens. Und man wundert sich: was man so einer einfachen Geschichte nicht alles verdankt.