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Was man über Selfies schreiben darf

Das Selfie ist in nahezu alle Lebensbereiche eingedrungen. Was macht diese Mode so populär? Ein Hashtag.

Von: Thomas Lipsky

Ich war neulich einmal wieder im Stadion. Mit meiner guten Freundin Meike. Meike ist eigentlich kein Fußballfan. Trotzdem wollte sie unbedingt dabei sein. Kaum sind wir im Stadion angekommen, zückt sie ihr Handy, öffnet die Foto-App, fährt sich durch die Haare. Dann legt sie ihren Kopf schief und zieht eine Schnute. Daraufhin rückt sie sich vor den Hintergrund des Fußballrasens und drückt ab.

Sie postet das Bild auf Facebook. Und dann weiß die Online-Welt: Das ist Meike. Die Meike von jetzt und nicht die Meike von gestern am Eisbach, die topaktuelle Meike und die war im Stadion. Wenn im Laufe des Folgetages jemand einmal seine Pinnwand herunterscrollt, sieht er Meike wieder und vielleicht, weil Meike recht gut aussieht, klickt er auf das Bild oder gibt ihr einen „Like“. Dann weiß Meike, jemand hat sich ihr Foto angesehen und jemand mag ihr Foto.

Ganz München hat sie so schon gespottet: Die Frauenkirche, die Isar, den Flaucher, den chinesischen Turm, das Sendlinger Tor, das Architektencafe. Von all diesen ihren favourite places besitzt Meike schon ein Bild, nur eben eins mit sich im Vordergrund. Und da ist sie wohl nicht die einzige. Jeder hat so eine Meike in seinem Freundeskreis und jeder von uns ist, ehrlich gesagt, auch so ein bisschen Meike. Und im Prinzip ist das gar nichts Neues.

President Barack Obama poses for a selfie with Bill Nye, left, and Neil DeGrasse Tyson in the Blue Room prior to the White House Student Film Festival, Feb. 28, 2014.  (Official White House Photo by Pete Souza) This official White House photograph is being made available only for publication by news organizations and/or for personal use printing by the subject(s) of the photograph. The photograph may not be manipulated in any way and may not be used in commercial or political materials, advertisements, emails, products, promotions that in any way suggests approval or endorsement of the President, the First Family, or the White House.
Bill Nye mit Barack Obama und dem Wissenschaftsjournalisten Neil DeGrasse Tyson

Ein Foto präsentierte schon immer nicht nur die fotografierte Szenerie. Es ist auch seit jeher ein Medium der Selbstdarstellung für jeden Einzelnen im Bild ebenso wie für denjenigen, der das Foto schoss und denjenigen, der das Foto letztendlich aufbewahrte, ins Fotoalbum klebte oder aufhängte.  Das fundamental Neue am Selfie nun ist – wenn man das Selfie überhaupt noch als neu bezeichnen möchte –, dass der, der bisher hinter der Kamera stand, aus dem Schatten hervortritt. Er ist auf einmal Fotograf, Fotografierter und Fotopräsentant: er zeigt der Welt, wo er ist, mit wem er dort ist und wie er dabei aussieht.

Das Selfie ist dabei aus den sozialen Internetmedien nicht wegzudenken. Wer sich präsentieren will, der braucht ein Gesicht und wie auf Bewerbungsschreiben eignet sich dazu das eigene Gesicht am besten. Denn es ist scheinbar authentisch. Das Selfie macht meist einen spontanen und unverfälschten Eindruck, etwa einer Überwachungskamera, nur dass der Betroffene sich quasi selbst überwacht. Im Zweifel kann er ja dann daneben hashtagen, wie er sich gerade fühlt und warum. Hat man sich so einmal in einer besonderen Situation gezeigt und sein Profil aktualisiert, gibt es keinen Grund, es nicht wieder zu tun, sich nicht zu reaktualisieren. In jedem neuen Foto steckt die Möglichkeit, sich der Welt als eine möglichst interessante und vielseitige Persönlichkeit darzustellen, seinen Weg live zu dokumentieren und so über eine Parallelwelt für alle zugänglich zu machen.

Man sollte dennoch vorsichtig sein, aus dieser Erscheinung ein soziales Phänomen zu machen. Es ist natürlich zuallererst vergleichsweise einfach, ein Bild von sich selbst zu machen, anstatt jemand anderen zu fragen, ob er denn fotografieren will, der womöglich den Auslöser nicht findet oder mit der neuen Blitzertechnik am Apparat nicht vertraut ist. Seit es die technische Möglichkeit gibt, ist das Selbst-Fotografieren die wohl zeitsparendste Alternative. Gleichwohl ist das Gefühl, mit dem man den Auslöser drückt ein anderes.

Den Selfie-Schießer zeichnet ein ganz neues Selbstbewusstsein aus. Er sieht mit kokettem bis stirnrunzligem Blick in die Kamera, die er sich selbst vor das Gesicht hält. Es ist eine schamlose Selbstdemonstration: Er steht in einer Welt, die er selbst kreiert. Bei einem Selfie von mehreren Personen sieht man sofort, wer die Situation im Griff hat, wer das Statussymbol und Schauobjekt, wer der Stolze und wer der Bewundernde ist. Das Selfie ist der Beweis, dass derjenige, der es schießt, bestimmte Personen an jenem Ort getroffen hat. Gleichzeitig zeigt es an, dass ihm dieses Foto gehört. Der Selfie-Schießer ergreift Besitz an der Situation. Er bestimmt, wer er ist und wie man ihn zu sehen hat.

Bei Meike wirkt es fast so, als würde sie ihr Foto, noch während sie es aufnimmt, an sich ziehen wollen. Dabei sieht jedes ihrer Bilder so bezaubernd aus. Es könnte eins zu eins so in einem Modemagazin stehen. Ihr ebenmäßiges Gesicht vor oder neben berühmten Personen oder Gebäuden. Es macht fast den Eindruck, als wäre der Ort nur in ihrer Anwesenheit schön.

In Wirklichkeit sieht sie dann wiederum nicht ganz so perfekt aus. Ohne Instagram-Filter wirkt ihre Haut nicht so ebenmäßig und glatt, sie wirkt deutlich kleiner. Trotzdem kommt sie einem seit ihrer Selfie-Phase privat irgendwie wie eine Prominente vor. Man hat sie häufiger auf Bildern als in Wirklichkeit gesehen. Eine kleine Facebook-Abonnement-Prominente, die auch nicht müde wird, neue Selfies von sich zu machen.

Ich bin dabei auf ganz neue Selfie-Arten gestoßen: Das „Spiegel-Selfie“ etwa. Hier lichtet man nicht nur sich und den meist weniger interessanten Badezimmerhintergrund ab, sondern besonders auch das eigene Handy. Das Tor zur Welt des anderen zeigt das Tor zur Welt des einen. Es gibt das Spiegel-Selfie mit Blitz, das Selfie gegen einen Deckenspiegel, das Selfie aus der Frosch- und der Elefantenperspektive. Es gibt das Selfie mit eingezeichnetem Bart. Und und und.

Es gibt inzwischen Selfies von Astronauten:

Der Astronaut Mike Hopkins (Foto: Mike Hopkins)
Der Astronaut Mike Hopkins (Foto: Mike Hopkins)

Vor Kurzem soll sogar ein Makake, ein Urwaldaffe, ein Selfie von sich geschossen haben:

Foto: Makake
Foto: Makake

Das Interessante an diesen Bildern ist aber viel weniger, dass tatsächlich jemand in den Weltraum vorgedrungen ist oder es möglich ist, dort ein Foto zu schießen. Ebenso wenig, dass es offenbar einen Apparat gibt, mit dem ein Affe sich selbst in freier Wildbahn fotografieren kann. Viel bahnbrechender ist es doch zu zeigen, wie weit eine Mode gehen kann. Sie dringt in ungeahnte Sphären vor, verbreitet sich auf neuen Kanälen, sie wird einer größeren Masse zugänglich. Die Welt ist nicht mehr genug.

Meike hat neulich etwas ganz Neues entdeckt. Sie hat eine Freundin ein Selfie machen lassen, in deren Hintergrund sie ein Selfie macht. Sowas wie ein Meta-Selfie also. Als ich sie darauf scherzhaft angesprochen habe, blockte sie ab. Das sei Sozialkritik. Das hat mich zum Nachdenken gebracht.

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