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„Über den Krieg wissen sie nichts“

Die russische Aktivistin Anna Petrova (Name geändert) hilft ukrainischen Flüchtlingen in Russland, nach Westeuropa zu kommen. Ein Gespräch über Ukrainerinnen, die nach Russland fliehen, die Moral der Zivilbevölkerung im Krieg und über die Fehler Deutschlands im Umgang mit Russland.

Das Interview führte Max von Petersdorf.

Wir treffen uns im Bavariapark. Weil Anna schon mehrfach in Deutschland war, reden wir Deutsch. Nur wenn sie ins Stocken gerät, wechselt sie manchmal ins Englische, und wichtige russische Wörter übersetzt sie mit ihrem Handy. Anna besucht gerade für einen Kulturbesuch einige Tage Deutschland. Obwohl sie ein volles Programm hat, setzt sie sich für ein Gespräch mit PHILTRAT auf eine Bank im Bavariapark. Es ist ihr wichtig, zu reden. Rundherum sonnen sich Menschen an einem letzten schönen Sommertag. Anna zieht ihre Schuhe aus – falls das länger dauert – sagt sie.

PHILTRAT: Von ukrainischen Flüchtlingen, die nach Russland fliehen, ist in Deutschland wenig bekannt. Was sind es für Menschen, die nach Russland fliehen?

Anna Petrova: Wir müssen das geographisch verstehen und uns die Karte vorstellen. Die Menschen, die nach Russland fliehen, haben oft an der russisch-ukrainischen Grenze gelebt. Ihre Heimat, all die kleinen Städte und Orte, sind mit dem Einmarsch der russischen Armee zur Kriegszone geworden. Die Menschen dort können nicht direkt in die Ukraine und von dort nach Westeuropa fliehen. Sie sind jetzt in der russischen Zone der Ukraine und müssen deshalb erst nach Russland, um dann weiter nach Westeuropa zu kommen.

PHILTRAT: Kommen sie schon mit dem Entschluss nach Russland, von dort weiter nach Westeuropa zu fliehen?

Anna Petrova: Die jungen, gut gebildeten Flüchtlinge wissen oft von Anfang an, dass sie nach Westeuropa wollen, vor allem wenn sie allein sind. Einige versuchen zuerst, in Russland zu leben, vor allem wenn sie dort Verwandte haben. Und aus verschiedenen Gründen entscheiden sie dann nach einigen Monaten, nicht in Russland zu bleiben. Die Alten und die, die Kinder haben, warten oft, bis Verwandte oder Freunde ihnen helfen. Sie können ihre weitere Flucht nicht allein organisieren, körperlich oder psychisch fehlen ihnen die Fähigkeiten. Andere warten einfach in Russland darauf, dass alles endet.

PHILTRAT: Wie werden die ukrainischen Flüchtlinge in Russland aufgenommen?

Anna Petrova: Auch das ist nicht eindeutig zu beantworten. Es gibt Flüchtlinge, die organisiert nach Russland gebracht werden vom russischen Militär, mit Bussen.

PHILTRAT: Werden sie dazu gezwungen oder gehen sie freiwillig?

Anna Petrova: Folgende Situation: Hier sind russische Soldaten, die sagen: „Es fallen gleich Bomben. Wenn ihr bleibt, werdet ihr vielleicht beschossen.“ Ist das freiwillig? Sie werden zu Zwischenlagern für Flüchtlingen gebracht, wo sie ziemlich lange bleiben können. Andere haben selbst entschieden zu gehen. Für sie ist es manchmal schwierig, in diese Zwischenlager zu kommen.

PHILTRAT: Wenn die Menschen einmal in Russland sind: Hilft man ihnen? Werden ihnen Jobs organisiert? Bekommen sie finanzielle Unterstützung? Gehen die Kinder zur Schule? 

Anna Petrova: Für die Kinder gibt es die Möglichkeit, in russische Schulen zu gehen. Manche Flüchtlinge haben eine 100-Euro-Einmalzahlung bekommen, ich glaube, es gibt auch monatliche Zahlungen für Mütter. Wenn sie aber einen russischen Pass bekommen, was vom Regime gewollt ist, können sie mehr erhalten, wie Wohnungszertifikate. Sind die Menschen in den Camps, gibt es Essen, Medikamente und Second Hand Kleidung.

PHILTRAT: Wie kommen die Leute, die entscheiden, nicht in Russland bleiben zu wollen, mit euch in Kontakt?

Anna Petrova: Telegram-Chats und Mund-zu-Mund-Propaganda.

PHILTRAT: Läuft eure Arbeit im Verborgenen oder wird Hilfe für diese Menschen toleriert?

Anna Petrova: Ich würde nicht sagen, dass wir geheim vorgehen. Wir machen nichts gegen das Regime. Es ist nicht verboten, ukrainischen Flüchtlingen zu helfen. Wir versuchen, bei unserer Tätigkeit, nichts mit dem Regime zu tun zu haben.

PHILTRAT: Aber offiziell ist es nicht, was ihr macht?

Anna Petrova: Es gibt offizielle Organisationen, die Flüchtlingen helfen, aber keine, die sie in andere Länder bringen. Offiziell wird nur den Flüchtlingen geholfen, die in Russland bleiben. Es gibt keine Regeln und das ist unser größtes Problem. Wir wissen nicht, ob das, was wir machen, das Regime stört oder nicht und auch nicht, wann wir eine Grenze überschreiten.

PHILTRAT: Nach dem Putsch Versuch von Jewgeni Prigoschin gab es Zweifel, wie sehr Putin die Lage im Land noch kontrolliert und überblickt. Wie groß ist der Durchgriff des Regimes auf die Zivilgesellschaft, wie weit wird Engagement wie eures überwacht? 

Anna Petrova: Das wissen wir auch nicht. Wir wissen, dass die Offiziellen von uns wissen, aber ob sie uns überwachen und Dokumente über uns führen, wissen wir nicht. Ich glaube, was wir machen, wird akzeptiert, weil das Regime will, dass Ukrainer, die nicht in Russland bleiben wollen, gehen sollen. Sie sind gegen das Regime und wenn sie dort konzentriert werden, schaden sie dem Regime nur. Ich glaube, unsere Aktivität wird als Hilfe und nicht politisches Engagement gedeutet. Aber sicher sein können wir nicht. Wir versuchen uns zu schützen, aber wenn wir nicht wissen, was gefährlich ist, können wir uns nicht richtig schützen.

PHILTRAT: Ist das Erzeugen dieser Unsicherheit die große Stärke des Regimes? 

Anna Petrova: Einerseits ja, aber für uns ist das auch nicht schlecht. Wenn die Regeln unklar sind, wissen auch die Offiziellen und Beamten nicht, was verboten ist und ob sie uns bestrafen sollen. Dann zögern sie vielleicht, um selbst keinen Ärger zu bekommen. 

PHILTRAT: Mit wie vielen Leuten kannst du offen über deine politische Meinung reden?

Anna Petrova: Nicht mit der Familie. Meine Eltern sind im anderen Lager. Aber Flüchtlingen zu helfen, ist für sie in Ordnung. 

PHILTRAT: Kennen sie deine Meinung über den Krieg?

Anna Petrova: Ja, und das ist das Schwerste an unserer Beziehung, die nach dem Krieg viel kälter geworden ist. Mit allen Freiwilligen, die mit mir zusammenarbeiten, könnte ich offen reden, aber weil wir wissen, dass wir dieselbe Position haben, müssen wir nicht darüber sprechen. Das ist sicherer.

PHILTRAT: Redet ihr nicht offen aus Angst, an die Behörden verraten zu werden? 

Anna Petrova: Solchen Verrat gibt es, zum Beispiel, dass eine Lehrerin mit den Schülern offen über den Krieg spricht und ein Schüler sie dann an die Polizei verrät. Diese Geschichten bekommt man dann auf Social Media mit. Einige werden auch angeklagt und nach den neuen Gesetzen verurteilt, die es bestrafen, über den Krieg zu „lügen“. Diese Gesetze sind natürlich eine Farce. Das sind faschistische Gesetze.

„Über den Krieg wissen sie nichts. Es bedeutet für sie Geld. Sie verstehen nicht, dass sie erschossen und in einer Plastiktüte nach Hause gebracht werden.“

PHILTRAT: Wann hast du zum ersten Mal vom Ukrainekrieg gehört und was war deine Reaktion?

Anna Petrova: Ich war zu Hause und habe gestrickt. Ich habe ein Modell fertiggestellt, dass ich den Frauen in meinem Strickkurs zeigen wollte. Es war 12 oder 13 Uhr. Ich konnte es nicht glauben. 2 Wochen vorher war mein Sohn aus der Schule gekommen und hatte gesagt: „Mum, sei nicht traurig, es gibt Krieg, aber Putin hat eine Atombombe.“

PHIILTRAT: Weißt du, wer ihm das erzählt hat?

Anna Petrova: Ich glaube, niemand! Es war mehr eine Atmosphäre oder Gespräche zwischen Kindern, von denen manche einen Fernseher haben und andere nicht.

PHILTRAT: Wie alt ist dein Sohn und versteht er schon, was der Krieg bedeutet?

Anna Petrova: Er ist 12. Und natürlich versteht er es, aber meine Kinder wollen nicht über den Krieg reden. Sie wissen, dass es irgendwie gefährlich für mich ist. Deshalb wollen sie nicht, dass ich Flüchtlingen helfe. Es ist für sie traumatisch. Viele ihrer guten Lehrer sind aus Russland geflohen und einige ihrer Freunde mit ihren Eltern. Dann gibt es in St. Petersburg Kriegswerbung auf den Straßen, die damit wirbt, dass man gutes Geld verdienen kann, wenn man in den Krieg zieht. Der Krieg wird durch Geld normalisiert, als sei es nur eine Arbeit, bei der man gutes Geld verdienen kann. Das ist das Schlimmste für mich.

PHILTRAT: Gibt es außer den jungen Männern noch andere Gruppen, die den Krieg besonders unterstützen, oder solche, die ihn entschieden ablehnen?

Anna Petrova: Mein Eindruck ist, dass junge Männer, so von 14 bis 18, sehr interessiert sind am Krieg, aus pubertärem Protest gegen ihre Eltern, die vielleicht gegen den Krieg sind. Russland ist ein Land, das in den letzten 15 Jahren zu einer Konsumgesellschaft geworden ist, vielleicht noch stärker als Deutschland und andere westliche Länder. Vor allem die Städte wie Moskau und St. Petersburg. Nike und iPhones sind sehr wichtig für junge Leute. Winkt man ihnen mit Geld, ist das auch deswegen so reizvoll. Und über den Krieg wissen sie nichts. Sie verstehen nicht, dass sie erschossen und in einer Plastiktüte nach Hause gebracht werden. 

Gerade für arme Regionen in Russland kann der Krieg den sozialen Aufstieg bedeuten. Für jeden Gefallenen zahlt der Staat der Familie etwa 12 Millionen Rubel (ca. 123.000 Euro). Für Familien, die überhaupt kein Geld haben und von 300 Euro im Monat leben, ist das extrem viel Geld.

PHILTRAT: In Putins Weltsicht steht Russland dem dekadenten Westen gegenüber. Ist es nicht zynisch, dass die eigenen jungen Männer mit Konsumversprechen für den Krieg motiviert werden müssen – gegen den vermeintlich dekadenten Westen? Spielt das Geld wirklich die größere Rolle bei der Entscheidung in den Krieg zu gehen als der Nationalismus?

Anna Petrova: Natürlich. Es gibt Nationalisten, aber die spielen keine große Rolle. Die Gleichgültigen sind es, die nicht für den Krieg sind, aber auch nicht dagegen, die denken, wenn wir den Krieg schon begonnen haben… Ich selbst hätte den Krieg nicht angefangen, aber jetzt wo wir angefangen haben, ist es besser, zu gewinnen, vor allem, wenn ich selbst davon profitieren kann. 

PHILTRAT: Du bist aus St. Petersburg nach Deutschland gekommen. Warum ist es dir wichtig, dich hier mit Leuten zu treffen und mit ihnen zu reden?

Anna Petrova: Mir ist wichtig, für die Russen zu sprechen, die gegen den Krieg sind. Oder zumindest nicht dafür. Die Menschen im Westen müssen verstehen, wer für den Krieg verantwortlich ist. Das ganze Volk kann es nicht sein. Diese Ansicht leugnet nur die Schuld derer, die wirklich dafür verantwortlich sind. Wenn man sagt, alle sind verantwortlich, ist niemand verantwortlich. 

Es muss allen Ländern klar sein, dass man Krieg nicht anfangen darf und das nicht akzeptiert wird. Die Ukraine darf nicht zum ermutigenden Beispiel für solche Art von Kriegen werden. Aber das wird passieren, wenn man sagt: Lasst uns Donezk und Luhansk an Russland geben und den Krieg beenden, das ist uns das Wichtigste. Diese Idee ist aber falsch. Das wird nie enden, wenn jemand Territorien ungestraft besetzen darf.

PHILTRAT: Nach dem Ausbruch des Krieges gab es viele Diskussionen über die früheren politischen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland. Vor allem, weil Deutschland sich von russischem Gas abhängig gemacht hat. Denkst du, die deutsche Politik war naiv gegenüber Putin?

Anna Petrova: Nicht naiv, pragmatisch aus kommerziellen Gründen. Aber das sollte die Politik nicht leiten. Wenn politische Entscheidungen kommerziell getroffen werden, passiert was passiert ist. Seit dem Krieg in Georgien 2008, hätte man so eine Politik stoppen können. Und 2014 nach der Besetzung der Krim noch einmal.

Russland wurde 1991 eine Demokratie und schon 1993 wurde das Parlament wieder umgangen. Das waren zwei Jahre, die demokratisch waren, aber es waren schwere Jahre: Armut, Inflation, neues Geld, eine neue soziale Ordnung. 1996 wurden dann die Präsidentschaftswahlen gefälscht. Eigentlich hatten wir nur 2, vielleicht 5 Jahre Demokratie und das war zu wenig, um die Demokratie zu verstehen und zu festigen. 

PHILTRAT: Gab es damals in der russischen Bevölkerung ein Gefühl, dass es ein Angebot vom Westen gab, Russland in Europa einzubinden?

Anna Petrova: Wir haben 2023. Das ist lange her. Wir brauchen einen neuen Weg, um die Welt zu normalisieren. Was ich sage, klingt jetzt vielleicht nach einem kolonialen Denken. Aber die demokratischen Länder sollten nicht so tolerant gegenüber den autokratischen Ländern sein. Sie sollten verstehen, dass sie nicht sagen können: Wir sind in unserem Europa. Das ist ein stiller Kontinent! Die Welt ist zu klein, um uns zu isolieren. Heutzutage hat jeder Krieg Auswirkungen und wird näher und näher kommen, wenn wir nicht damit umgehen können. Diese Kuschelpolitik: Wir geben ihnen Geld, Toleranz, Waffen, Energie, nur bitte keinen Krieg führen. Das geht nicht!

PHILTRAT: Selbst nach dem Ausbruch des Krieges wissen die meisten Deutschen wenig über Russland, besonders das Leben der Menschen dort. Putin, Oligarchen und Pipelines sind oft das Einzige, was wir von Russland wissen. Liegt es daran, dass so wenig von eurem Leben nach außen dringt, oder interessieren wir uns vielleicht nicht dafür, weil es leichter ist, das Land als Ganzes zu verurteilen, ohne sich für das Leben der Menschen näher zu interessieren? 

Anna Petrova: Das ist schlimm. Wenn jemand Krieg angefangen hat, ist es leichter dieses Land abzustempeln, sich nicht näher damit zu beschäftigen. Aber das ist ein Fehler. Wir sollten unsere Feinde kennen. Die schwache und starke Seite und wie die Leute da leben. Ich glaube, dass ist die Arbeit, die Journalisten machen sollten. Über Russland schreiben, es nicht aus dem Blick lassen. Wenn sie es nicht machen, können sie nicht verstehen, was da passiert. Und wenn Politiker es nicht verstehen, schätzen sie Situationen falsch ein und nutzen Möglichkeiten nicht. Das ist dumm zu sagen, über die Russen wollen wir nichts wissen, weil sie den Krieg angefangen haben. 

PHILTRAT: Wenn du ukrainischen Flüchtlingen hilfst, nach Russland zu kommen, hast du jemals darüber nachgedacht, dass du selbst aus Russland weggehen möchtest?

Anna Petrova: Ich kann die Frage nicht beantworten. Manchmal denke ich, dass ich auch fliehen sollte. Manchmal denke ich: Wenn wir alle fliehen, wer wird noch da sein? Manchmal denke ich, ich sollte mich um mein eigenes Leben kümmern. Ich weiß nur eine Sache: Wenn, dann würde ich woanders versuchen, zum Kriegsende beizutragen.

München, 28.10.2023

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