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Der Riese ist erwacht

„Die Bustarife sind unser Taksim!“, „Es geht nicht nur um 20 Centavos!“ Brasilien protestiert. Aber warum eigentlich?

Anlässlich der landesweiten Proteste in Brasilien organisierten in Deutschland lebende Brasilianer vergangenen Dienstag eine Solidaritätsdemonstration auf den Münchner Marienplatz. Mit Plakaten für mehr Demokratie kämpften circa 400 Demonstranten um mehr Aufmerksamkeit und plädierten dafür, die eben erst beginnende Bewegung in ihrem Land Ernst zu nehmen.

Foto: (c) Vinicius Padula 2013

Überraschenderweise hat das Wutbürgertum seit letzter Woche nun auch den Lateinamerikanischen Riesen erreicht. Hunderttausende gehen auf die Straßen. Plötzlich verwandeln sich Brasiliens Großstädte in Kundgebungsplätze à la Taksim. Da stellt sich die Frage, ob Demonstrieren jetzt Mode geworden ist, oder worum es den Brasilianern eigentlich geht? Anders als ein Titel der Süddeutschen Zeitung am Montag vermuten ließ, richten sich die Proteste gegen viel mehr, als nur die bereits ausgegebenen Miliarden für die bevorstehende Fußballweltmeisterschaft. Die Brasilianer äußern nun vielmehr ihren Unmut über zu lange aufgeschobene Reformen.

Die letzten Donnerstag ausgebrochene Wut über eine beschlossene Fahrpreiserhöhung für öffentliche Verkehrsmittel in Sao Paulo brachte das Fass nun schlussendlich zum Überlaufen. Den Anfang der Proteste machte das Bündnis MPL (Movimento Passe Livre), das sich lediglich gegen die Fahrpreiserhöhung einsetzte. Aus dieser kleinen Demonstrantengruppe entwickelte sich jedoch innerhalb weniger Tage eine nationale Protestbewegung. Hunderttausende begleiteten binnen kürzester Zeit die Proteste in vielen Metropolen des Landes. Und obwohl die Fahrpreiserhöhung aufgrund des rasant steigenden Drucks auf die Politik gestern offiziell zurückgenommen wurde, hören die Proteste nicht auf. Der Widerstand regt sich weiterhin in allen Bevölkerungsschichten und die jahrzehntelange Unzufriedenheit über das unterfinanzierte Schul- und Gesundheitswesen sowie stetige Korruptionsfälle machen sich nun, nach diesem ersten Funkenschlag, seit Tagen explosionsartig Luft.

Die aktuellen Manifestationen sind die seit 20 Jahren größten und in ihrem Ausmaß bisher einzigartigen Volksproteste in Brasilien. So lange erträgt dieses Volk bereits korrupte Politiker und toleriert stumm ein System undurchschaubarer Vetternwirtschaft. Warum der revolutionäre Funke genau jetzt überspringt, weiß im Moment noch keiner so genau. In welche Richtung sich die Proteste in den nächsten Tagen und Wochen noch entwickeln, auch im Hinblick auf das immer brutalere Eingreifen der Militärpolizei, bleibt abzuwarten. Zumindest hat die Präsidentin Dilma Rousseff, die die Demonstrationen als einen Teil von Demokratie bezeichnete, noch die Möglichkeit, den Dialog zum von ihr vertretenen Volk zu suchen und nicht dieselben fatalen Fehler zu begehen wie ihr türkischer Amtskollege.

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