Was ein Abend mit Sarrazin tatsächlich lehrt
Die Lesung mit Thilo Sarrazin hatte schon vorab für heftige Kontroversen gesorgt. Das Münchner Literaturhaus hielt jedoch gegen den Rummel an seinem Plan fest und gestaltete lediglich den Abend in eine Diskussionsrunde um. Doch gepflegt zu Diskutieren scheint nicht jedermans Sache zu sein.
Die Menschenmenge, die sich vor der Reithalle in der Heßstraße drängelt, ist weitaus größer als die, die sich noch zehn Minuten vor Beginn der Veranstaltung lautstark für deren Absage ausspricht. In der Schlange entbrennen bereits die ersten unqualifizierten Besserwissereien. „Die Stalinorgel war ein Segen“, hört man vorne, hinten „die Anatolisierung Deutschlands“ und „Nur der Hass kann siegen“. Wie bitte? Flyer und Flugblätter für und gegen den Hauptakteur des Abends, Thilo Sarrazin, werden verteilt. Über allem steht wachsamen Auges das Polizeiaufgebot, das in regelrechten Barrikaden aufmarschiert ist und nur hindurch lässt, wer eine Karte vorweisen kann. Am Eingang werden die Taschen kontrolliert, Flaschen müssen vor der Tür ausgetrunken und dann weggeworfen werden. Sicherheitsvorschrift. Drinnen angekommen schlägt einem eine gediegene Atmosphäre entgegen. Gedämpftes Gemurmel, Flanieren, Plätze besetzen. Der riesige rote Bücherstapel schmilzt rasch herunter, es springen die Taler. Diesem Publikum scheint es auf jeden Fall zumindest daran nicht zu mangeln. Es sind durchweg besser verdienende, gut situierte Leute. Die Herren kommen in Anzug und Krawatte, mit einer Vorliebe für randlose Brillen oder die mit dem runden Horngestell. Die Damen tragen Bügelfaltenhose und Perlenkette. Auch junge Leute sind da, Studenten. Die Reihen füllen sich von vorne nach hinten. Die Bühne ist rot erleuchtet, die Luft bereits dampfig. Noch sitzen nicht alle, da üben sich schon die Claqueure: ein großes Klatschen hebt an, keiner will damit zu spät dran sein, doch die Bühne bleibt leer. Zwanzig Uhr fünfzehn. Das Podium belebt sich. Unter Blitzlichtgewitter und Pressegerangel steht er nun da. Das Publikum jubelt. Man will’s kaum glauben, und fragt sich, wie diese kühle, blasse, unscheinbare Person in letzter Zeit solche starken emotionalen Wellen aufrühren konnte. Sarrazins Diskussionspartnern, Gabor Steingart (Chefredakteur des Handelsblatts), Armin Nassehi (Professor für Soziologie an der LMU) und dem Journalisten Achim Bogdahn vom Bayerischen Rundfunk als Moderator gilt die Neugierde jedenfalls nicht, die der Bühne vom Publikum aus entgegenschwappt.
Meinungsaustausch mit Hindernissen
Nach einer kurzen Begrüßungs-, Dankungs- und Rechtfertigungsrede von Seiten des Literaturhauschefs Reinhard Wittmann, beginnt die Darlegung der einzelnen Statements der Diskutanten. Mit etwas nuscheliger Knödelstimme beklagt Sarrazin erst einmal die Kritik an seinem Buch, die seiner Meinung nach jeglicher Grundlagen entbehre. Er führt gönnerhaft Angela Merkel an, die ihren Satz, „das Buch ist nicht hilfreich“, schon dadurch ad absurdum führe, indem sie wenig später in einem Interview mit der FAZ betone, das Buch gar nicht gelesen zu haben und es auch gar nicht lesen zu wollen. „Was sagt das über unser Land aus, über unsere Regierung?“ Alles klatscht emphatisch. Sarrazin gesteht sich eine klitzekleine Schwäche ein und gibt zu, durch die „harsche und zum Teil gehässige Kritik“ seiner Politgenossen sogar verunsichert worden zu sein, was aber seine guten alten Freunde durch ihre – bestimmt objektiven, weil unterschiedlichen Parteien angehörigen – Urteile jedoch wieder in Ordnung gebracht hätten. Er bedauert es, dass es bei der Rezeption des Buches nicht um die Sache ging, sondern alles rein emotional beurteilt wurde. Dass jedoch der anhaltende Applaus und die Bestätigungsrufe aus dem Publikum auch nur rein emotional begründet sind, scheint ihn nicht zu stören, ja, er findet offensichtlich Gefallen daran, redet sich im Applaus bisweilen in Rage und muss vom Moderator gebremst werden. Das Volk hört gar nicht zu, es klatscht ja und pfeift. Er mache sich keine Sorgen um sich (O-Ton: Sein Einfamilienhaus in Berlin sei schuldenfrei – brausender Applaus), sondern er mache sich Sorgen um den Staat, das Volk, die Gesellschaft. Er kann ja nichts dafür: „Menschen werden immer aggressiv, wenn es an den Kern ihres Weltbildes geht.“ Immerhin sei es produktiv, diese Aggression zu provozieren.
Gabor Steingart betont, das Buch gelesen zu haben, aber nicht gerne hergekommen zu sein. Der Anlass sei ein trauriger. Denn war Sarrazin ihm früher als Kollege ein „entfernter Verwandter“, fast ein „Bruder“ aufgrund ähnlicher Vorstellungen, markiere dessen Buch nun eine klare Trennung. Steingart versteht das Buch nicht und die Person Sarrazins nicht mehr. Zwei Vorwürfe formuliert er aus: Zum einen missfalle ihm Sarrazins Ton. Sarrazin spiele sich zum Herold der Wahrheit auf, der mit dem „glockenhellen Ton des Wissenden“ den Anspruch habe nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu künden. Gleichzeitig töne Sarrazin aber auch mit düsterem, dunklem, feindseligem Gerede vom Untergang. Steingart missfällt Sarrazins Ressentiment, seine Provokation um jeden Preis. „So spricht man nicht über Menschen“. Der Saal klatscht. Warum dann aber nur 20 Sekunden später Steingarts Satz, er habe sich nach der Lektüre „den Kopftuchmädchen in der U-Bahn näher gefühlt als je zuvor“ vom Publikum mit Buh-Rufen niedergebrüllt wird, verstehe wer kann.
Steingarts zweiter Vorwurf, dass das beschworene Untergangsszenario so nicht zustimme, wird niedergegrölt. Kein Wort ist mehr zu verstehen. Auf die Benennung des „Kernfehlers“ von Sarrazins Buch, nämlich die Gleichsetzung von Bildung und Intelligenz, reagieren die Damen und Herren aber verhalten.
Armin Nassehi wirft Sarrazin vor, längst bekannte Untersuchungen von Experten zu ignorieren. Die Lage sei so, dass wir schon mehr wüssten, als was in dem Buch stünde, Sarrazin habe das nicht zur Kenntnis genommen. Sein persönlicher Leseeindruck vermittle ihm das Bild eines kleinbürgerlichen Autors, der mit einer ungeordneten Weltsituation nicht ganz zurecht komme. Dabei wäre die Migrationspolitik durchaus positiver gestaltet, als in dem Buch dargestellt würde. Hier muss sich Nassehi gegen Buh- und „Aufhören!“-Rufe durchsetzen.
Wo geklatscht wird verbietet sich Denken
Die anschließende Diskussion gestaltet sich schwierig und bringt wenig neue Erkenntnisse. Die unreflektierten Klatschreflexe des Publikums stören und verhindern eine ernsthafte und konzentrierte Auseinandersetzung mit dem Thema. Einen kurzen Zwischenfall gibt es, als zwei Studenten, offensichtlich von der Antifa, aufspringen, ein Banner ausrollen und „Kein Platz für Rassisten!“ schreien. Ein paar 60-Jährige reißen das Transparent nach unten, ein Ordnungshüter stellt sich drohend auf, auf dem Podium wird der Vorfall ignoriert. Äußerst seltsam ist gegen Ende das Verhalten des Publikums: Um kurz vor zehn Uhr steht der halbe Saal auf und geht. Einfach so. Wurden die Claqueure nur für zwei Stunden bezahlt oder haben die Leute tatsächlich kein Interesse am Inhalt der Diskussion? Sarrazin spricht gerade von seinen Leserzuschriften, die er alle abheftet und auswertet, und wird gefragt, ob er vorhabe, eine Partei zu gründen. Die Leute gehen raus, die Antwort geht zum Großteil im allgemeinen Stühlerücken unter – Sarrazin wird weiter in der SPD bleiben, er will keine eigene Partei.
Der Abend macht deutlich, dass er solcherlei Institutionsgeplänkel gar nicht braucht: Seine eigentlichen, menschenverachtenden Ansichten, die Eugenik und der Mensch als reines Leistungsobjekt, dessen Leben allein vom Staat gelenkt werden soll, hat er erfolgreich in den öffentlichen Meinungsmarkt gepflanzt. Seine Ideen entwickeln sich dort zu einem Selbstläufer, der für eine gewisse Stimmung sorgt. Nur diese Stimmung, und nur diese, bringt die Masse zum Klatschen, und lässt sie sich dabei auch noch als Elite empfinden. Vom Nachdenken keine Spur.