Unileben

Menschenleere

Attraktionen und eine lebhafte Szene wird man nicht auf dem Dorf finden. Trotzdem hat das Leben auf Land seine Vorzüge: Ruhe, Platz und mehr. 

Weit und breit keine Menschenseele. Auf dem Land geht es ruhiger zu, auch wenn viele sich das Leben dort idyllischer ausmalen, als es ist. © Max Fluder

Von Tina Zimmer 

Drei, vier, fünf. Stumm zähle ich die Stationen und die damit verbundenen Minuten, die mir noch bevorstehen und es auszuharren gilt. In dieser Position. Ohne Bewegungsfreiheit. Ohne frischen Sauerstoff. “So muss sich wohl das Schwein im Maststall fühlen”, geht es mir durch den Kopf (ein Gedanke, der mich im Übrigen sehr in meiner pflanzlichen Ernährungsweise bestärkt, doch darum soll es nicht gehen). Den Rücken zugewandt, steht vor mir ein großer Junge, an dessen Kunstlederjacke mein Gesicht förmlich klebt. Nach vorne blickend drohe ich zu ersticken. Wende ich meinen Kopf zur rechten Seite, verliere ich mich in einem Schopf blonder krauser Locken der Passantin neben mir. Nach links schauend habe ich Glück, denn hier besteht zur Tür der U-Bahn, an die sich mein Oberarm presst, genau ein schulterbreiter Spalt, in dem ich Luft schnappen kann. Wenn man das denn noch Luft nennen kann. Ich beginne erneut zu zählen.

Stress wirkt ansteckend

Zugegebenermaßen zeugt dieses Portrait einer U-Bahn Fahrt zu den Stoßzeiten durch die Münchner Innenstadt von wenig Aktualität (vielleicht eine der positiven Seiten der Pandemie?) und doch zeigt es eines derjenigen Dinge, die mir am meisten am Großstadtleben missfallen. Die Menschenmassen. 

Ich hoffe, man versteht mich nicht falsch. An sich würde ich mich als sehr soziale Person bezeichnen. Ich treffe mich gerne mit Menschen, zu zweit oder in der Gruppe, aber ich verabscheue dichte Ansammlungen, wie sie häufig in öffentlichen Verkehrsmitteln, Bahnhöfen, Kaufhäusern – eben in größeren Städten – gegeben sind. Nun wird dieses Gefühl der Beklommenheit nicht allein durch die vielen Körper ausgelöst, die ja auch bei Konzerten oder Festivals – Veranstaltungen, die ich im Übrigen sehr schätze – unvermeidlich sind, sondern vielmehr durch die von ihnen ausgehende Energie. Ein Strudel aus permanenter Geschäftigkeit und Eile, aus Unzufriedenheit und Zeitdruck zieht mich mit und zwingt mir seinen Rhythmus förmlich auf. Selbst wenn ich nichts vorhabe und mein Plan für den Tag darin besteht, entspannt die Kaufingerstraße entlangschlendern, lasse ich mich von den umher eilenden Passant*innen beeinflussen, die in meinem Körper eine Lawine an Stresshormonen in Bewegung setzen.

Geht das nicht noch schneller? Wenn Rastlosigkeit als modern empfunden wird

Leider wurden von Menschenhand entsprechende Vorrichtungen geschaffen, damit diese negative Energie auch die Wände eines Vehikels – wie die eines Automobils – durchdringen kann. So ist man auch auf den Straßen Münchens nicht davor gefeit. Genervtes Hupen an Ampeln, dröhnende Motoren bei ungeduldigen Beschleunigungs- und Überholmanövern lassen die Passant*innen wissen: Wir sind im Stress! Wir haben keine Zeit! Und ja, vielleicht ist es vor allem die Zeit, an der es hier allen zu fehlen scheint und die man deshalb nur noch auf dem Land findet.

Unverkennbar ticken die Uhren dort langsamer. Höhnisch ließe sich die mangelnde Beschleunigung, die von dem Soziologen Hartmut Rosa als das Kennzeichen der fortschreitenden Moderne bezeichnet wurde, als Hinweis auf einen geringeren, ja einen vormodernen, Entwicklungsstand der Landgesellschaft deuten. Und selbst wenn dem so sei, denke ich mir, wer braucht schon die Moderne, wenn die damit verbundenen Prinzipien, zu denen Rosa etwa mangelnde Resonanzerfahrungen zählt, den Menschen stets unbefriedigt lassen und ihm letztlich nichts als Unglück bescheren.

Weniger ist mehr. Und mehr macht vor allem nicht glücklich

Auf dem Land scheinen die Möglichkeiten – sei es das Sortiment im Tante-Emma-Laden oder das Angebot an Veranstaltungen – noch überschaubar und die Menschen zeigen eine Eigenschaft, die ich persönlich als Selbstgenügsamkeit bezeichnen würde. Damit meine ich eine Akzeptanz des gegenwärtigen Moments, die Zufriedenheit im Jetzt, einem Zeitintervall, welches in der lärmenden Großstadthektik allzu oft untergeht. 

Während ich den Großteil an Geräuschen der Stadt als aufdringlichen Lärm wahrnehme, empfinde ich die Geräuschkulisse auf dem Land als zurückhaltend und angenehm beruhigend. Wie der freie Wind durch die Baumkronen streift, über Hügel und Feld hinweg, das sanfte Plätschern des Baches im Tal, das fröhliche Zwitschern der Vögel in den Gärten und das verwunschene Glockenläuten der kleinen Dorfkirche – all das assoziiere ich mit einem Leben auf dem Land. Einem Ort, an dem die Nachbar*innen einander noch kennen und sich (freiwillig!) unterhalten, die Kinder in der Natur spielen statt im Netz und der Bäcker sein Brot noch selbst backt. Ein Ort, an dem die Welt noch in Ordnung scheint.

Ich gebe zu, es mag eine romantisierte Vorstellung vom Landleben sein. Doch wenngleich mein Bild angesichts der Realität nicht standhalten mag, so hebt es doch bloß die beigemessene Bedeutung der Dinge hervor, die für mich den Unterschied machen. Das idyllische Land – es bleibt für mich ein Ort der Sehnsucht, der mich zum Träumen bewegt und mir schon beim Gedanken daran Ruhe und Kraft spendet. Dieser fantastische Fleck, der so völlig im Widerspruch zu all dem steht, was mir im Stadtleben seit Langem so sehr missfällt und fehlt.

 

Die alte Frage „Stadt oder Land?“ bekommt während der Pandemie eine neue Wendung. Die einen schätzen die Ruhe des Landes, andere zieht es in die Städte. Hier gehts’s zu dem anderen Teil unserer Pro-Contra Debatte.

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