Kulturphilter

Liberty and justice for all

Foto: Andrea Booher/FEMA

Eine Kindheitserinnerung aus New York.

“I Pledge Allegiance to the flag

of the United States of America

and to the Republic for which it stands,

one Nation under God,

indivisible, with liberty and justice for all.”

Elf Jahre sind vergangen und ich hab immer noch nicht die Bedeutung dieser Worte verstanden. Trotzdem kann ich das Gebet noch auswendig. Vielleicht weil ich es zwei Jahre lang jeden Morgen wiederholen musste; an der John Jay Middle School, Katonah, New York. Alle Schüler standen mit der Hand auf dem Herzen zu einem rot-weiß gestreiften Stück Stoff gewandt, das hoch an der Wand hing. Vielleicht wussten auch meine amerikanischen Mitschüler im Alter von elf Jahren noch nicht, was Wörter wie Pledge oder Allegiance bedeuten, aber sie haben das Gebet trotzdem gelernt. Auch Mr. Halpern, dessen hervorstehender Bauch von seinem Gürtel hochgehalten wurde, betete mit. Der Italienerin sagte er hingegen, dass sie nur aufzustehen brauche; aus Respekt. Ich plapperte aber trotzdem mit; vielleicht wollte ich nicht auffallen. Zuerst bewegte ich nur den Mund, dann ahmte ich die Laute nach, und irgendwann begriff ich auch ihre Bedeutung.

Da man vor der Flagge betet, oder besser: die Flagge anbetet, muss in nahezu allen Zimmern jeder staatlichen Schule dieses Stück Stoff hängen. Von den Klassenzimmern zu den Büros, von der Mensa zu den Computerräumen, von dem Turnsaal über die Aula Magna bis hin zu den Küchen für Schüler, die dort lernen brownies, pancakes, waffles und chocolate chip cookies zu backen. Ich fragte mich irgendwann, warum es in den Toiletten keine Flaggen gab.

An einem langweiligen Dienstagvormittag des folgenden Herbstes wurde der Unterricht in Social studies – einem Fach, das Geschichte, Erdkunde und Politik vereint – von einer Durchsage Mr. Boths, des Direktors, unterbrochen. Alle Schüler freuten sich: Ein paar Minuten Unterricht zu vergeuden ist immer gut; doch sie wussten nicht, dass auch dieser Moment in die Geschichtsbüchern eingehen und wahrscheinlich von ihren Kindern gelernt werden müsste. Die Stimme Mr. Boths befahl: “Everybody please return to your Home Base immediately”. Home base war ein viertelstündiger Kurs, der vor Unterrichtsbeginn stattfand, damit die Anwesenheit kontrolliert und die Durchsage angehört werden konnten. Uns wurden Neuigkeiten zu Schule, Sport und anderen AGs mitgeteilt. Die Durchsage endete immer mit: “And today a happy birthday goes out to…” und dann folgten Namen wie: “Kiley Herring, Marina White and Heather Ellis!” Wie traurig, dass man den Geburtstag so deklarieren muss, damit auch denen, die niemanden kennen, gratuliert wird, dachte ich am Anfang. Doch niemanden zu kennen war am Anfang des Schuljahres nicht allein Sache der looser: Jedes Jahr werden alle Teams – ungefähr unseren Klassen entsprechend – völlig durchgemischt. Daher war es unwahrscheinlich, dass man auch nur mit einem Mitschüler des Vorjahres im selben Raum sitzen würde. Vielleicht gab es gerade deshalb Home base: Es war der einzige Kurs, der während der drei Jahre middle school dieselbe Schülergruppe und denselben Lehrer beibehielt.

Die Twin Towers kurz vor dem Einsturz (Foto: Bill Biggart, wenige Minuten nach dieser Aufnahme verstorben)

Da Mr. Halpern zufällig sowohl mein Social studies– als auch mein Home base-Lehrer war, fragte ich ihn auf dem Weg dorthin , was geschehen sei. „I only heard what you heard,“ antwortete er trocken. Kurz darauf wurde er von einer erneuten Durchsage aufgeklärt, ich jedoch nicht ganz: “The World Trade Center has been attacked.” „Was ist das World Trade Center?”, schoss es mir durch Kopf. Doch zum Glück ersparte ich mir diese peinliche Frage, denn direkt danach ertönten die Wörter “Twin Towers”, “airplanes”, “terrorists” und “crash” und da wusste auch ich, was geschehen war. Mr. Both verbot den Lehrern, die Fernseher anzuschalten. Sie sind wie die Flaggen: In jedem Raum gibt es einen. “I also ask all students, who had a parent leaving with an airplane this morning, to come down to the secretary’s office”. Sein Ausrutscher “had” verrat das Ziel der Maßnahme: Mama oder Papa anzurufen, um zu sehen, ob sie noch lebten.

Ich kann mich noch an das Gesicht Andrews erinnern, als er aufstand, um ins Sekretariat zu gehen: Es war cool wie immer, die Narbe auf seiner Nase war nicht tiefer als sonst. Kurz darauf kam er noch entspannter hereinspaziert; alles war gut. Aber nicht alle hatten dieses Glück. Es gab Schüler, deren Eltern in den Twin Towers arbeiteten. An diesem einen Tag wurden sie Vollwaisen.

Am zwölften September begannen die Schulstunden nicht mit der üblichen Hausaufgabenkontrolle: Die Lehrer wussten, dass wir diesmal wirklich den ganzen Nachmittag vor dem Fernseher verbracht hatten. In der Schule hatte Mr. Both es verboten, zu Hause hatte auch er selbst am Bildschirm geklebt. Zu Hause konnte jeder tun was er wollte, im Land der Freiheit. Doch schon am zwölften September versuchten die Lehrer normalen Unterricht zu geben. Mr. Halpern widmete dem Vortag nur zwei Sätze: “September 11th will enter the history books. But we have to move on.”

Gedenkstein für die Opfer von 9/11 (Foto: Wikicommons)

Zehn Jahre sind vergangen, und ich hab immer noch nicht die Bedeutung dieses Tages verstanden. Ich weiß nur, dass sich die berühmteste skyline der Welt von einem Tag auf den anderen verändert hatte. Die zwei längsten Rechtecke, die zwei größten Wolkenkratzer waren gestrichen worden. Innerhalb weniger Stunden gingen tausende T-Shirts und Tassen in die Geschichte ein: Die Silhouette von New York, die sie abbildeten, war nicht mehr aktuell. Ein neuer Horizont: Nicht mehr der World Trade Center, sondern Angst und Misstrauen dominierten die Stadt.

Während der letzten zehn Jahre füllten immer mehr Flaggen das Land. Sie hingen nicht nur in den Sälen öffentlicher Gebäude, sondern vor jeder Haustür. Immer öfter wurde ihnen die Nationalhymne oder die Pledge of Allegiance gewidmet. Die Anschläge wurden von den amerikanischen Politikern als Kriegserklärung gegen die USA verstanden. Bush erklärte: “The resolve of our great nation is being tested. Make no mistake: we will show the world, that we will pass this test. […] The United States will hunt down and punish those responsible for these cowardly acts.”

Nach dem elften September wurde die Konstruktion des aktuellen Feindes solider, doch es gab sie schon immer. Ich habe sie buchstäblich am eigenen Leib verspürt. Einige Mitschüler klebten mir Zettel mit dem Wort „mexican” auf den Rücken. Anfangs verstand ich nicht: Warum „mexican”? Ich bin doch Italienerin, dachte ich. Doch später wurde mir erklärt, dass „mexican” ein Schimpfwort ist; ungefähr so wie „gay”. Miss Langan, die Science-Lehrerin, bemerkte den Zettel auf meinem Rücken, nahm mich zur Seiten und flüsterte mir zu: “Don’t worry Elizabeth, we know you’re not mexican”.

Ich erinnerte mich an die letzten Worte der Pledge of Allegiance: “liberty and justice for all.

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