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„Israel hat seine Vergangenheit vergessen“

In Israel protestieren zehntausende afrikanische Flüchtlinge gegen willkürliche Verhaftungen und Menschenrechtsverletzungen – mit ungewissem Erfolg. Die Rhetorik der Regierung verheißt Konfrontation. 

Zehntausende afrikanische Flüchtlinge protestieren gegen die israelische Politik. Foto: Yotam Gibron

„Ihr wart einst Flüchtlinge auf der ganzen Welt“, schreit Binyam ins Mikrofon und Zehntausende applaudieren. Es ist eine schwarze Menschenmasse, wie man sie in Israel noch nicht erlebt hat. Die sonst kaum sichtbaren Tellerwäscher und Straßenkehrer haben sich erhoben und fordern ihr Recht. Doch nur wenige Israelis, denen Binyams Worte gelten, hören tatsächlich zu. Die vereinzelten weißhäutigen Pünktchen unter den Demonstranten sind Journalisten, NGO-Mitarbeiter oder linke Aktivisten. Dutzende Polizisten umringen die Masse, in Grüppchen stehen sie zusammen, oft apathisch, manchmal lachend. „Gibt es in Deutschland auch so viele Afrikaner? Wir in Israel haben 180.000 von ihnen – das ist mehr als problematisch“, sagt ein junger Polizist. Er meint es ernst. Wo er diese Zahl aufgeschnappt hat, sagt er nicht. Offizielle von der Regierung herausgegebene Statistiken beziffern die Zahl der Flüchtlinge auf etwa 55.000.

Es sind ereignisreiche Wochen für die Eritreer und Sudanesen im Heiligen Land: Als das Anti-Infiltrations-Gesetz im September 2013 vom Obersten Gericht in Israel kassiert wurde, feierten sie. Ein kleines Stückchen Menschlichkeit und Demokratie waren zurückgewonnen, es schien aufwärts zu gehen. Das Gesetz hatte es erlaubt, Flüchtlinge, die seit Juni 2012 die israelische Grenze überquert hatten, bis zu drei Jahre zu inhaftieren.

Doch die neu gewonnene Freiheit für die Flüchtlinge missfiel der Regierung: Am 10. Dezember 2013 verabschiedete die Knesset, das Israelischen Parlament, eilends ein neues Gesetz. Dieses sieht nun eine einjährige Gefängnisstrafe für illegale Einwanderer vor, danach einen Aufenthalt im „offenen“ Lager Holot, in dem die Flüchtlinge die Nächte verbringen und zusätzlich drei Mal täglich zum Zählappell erscheinen müssen. Ebenso wie die bisherige Gefängnisanlage befindet sich das neue Lager mitten in der Wüste, nahe der ägyptischen Grenze. Auch das neue Gesetz erlaubt es, tausende Flüchtlinge in ganz Israel aufzugreifen und zwangsweise dort unterzubringen.

Foto: Yotam Gibron

Als vor einigen Wochen willkürliche Verhaftungen auf den Straßen Süd Tel-Avivs anfingen, Menschen ins Holot zitiert wurden und das Innenministerium sich von einem Tag auf den anderen weigerte, Visa zu verlängern, schritten die Drangsalierten zur Tat: „Wir haben ein Komitee gebildet, um uns zu organisieren. Mehr als hundert Eritreer und Sudanesen haben gemeinsam über die Proteste abgestimmt und den Streik ausgerufen“, erzählt der 30-jährige Walyaldin, einer der Mitveranstalter. Ob er sich von der Maßnahme etwas verspreche? „Ja! Ich glaube fest daran, dass nicht alles umsonst ist. Durch unseren Protest zwingen wir die israelische Regierung und die internationale Gemeinschaft, uns zu beachten, etwas zu verändern, uns wie Menschen zu behandeln!“ Die wichtigsten Forderungen der Bewegung sind faire Asylverfahren und die Freilassung der Inhaftierten.

Erst seit anderthalb Jahren lebt und arbeitet Walyaldin als Putzmann in Israel – zurück nach Darfur kann er nicht. „Wenn du aus Israel zurückkommst, nehmen sie dir deinen ganzen Besitz weg. Wenn du politisch aktiv warst, stecken sie dich für ein paar Jahre ins Gefängnis oder bringen dich um. So läuft das dort.“ Walyaldins ganze Familie lebt jetzt in einem Lager für Binnenflüchtlinge, die vor dem Genozid in Darfur fliehen mussten.

Für Eritreer ist die Situation noch ernster. Das Land gilt als eine der repressivsten Militärdiktaturen der Welt. „Ich bin hierhergekommen, um mein Leben zu retten. In unserem Land haben wir alles, was wir brauchen. Aber wir können diese Ressourcen nicht nutzen, weil wir nicht frei sind“, sagt Semre, der seit drei Jahren in Tel Aviv lebt, nachdem er 16 Jahre lang gezwungen war, in der eritreischen Armee zu dienen. Eines Tages ergriff er seine Chance zur Flucht, zunächst in den Sudan und später über den Sinai nach Israel. Doch sein Leben hier treibt ihn zur Verzweiflung. „Mit meiner Gesundheit habe ich keine Chance, zu arbeiten. Ich bin nur eine Last für meine Freunde hier.“ Doch eine Rückkehr nach Eritrea würde für Semre mindestens fünf Jahre Gefängnis bedeuten, vielleicht sogar lebenslang.

„Was erwarten diese Menschen eigentlich von Israel?“

Davon unbeeindruckt erklärte Premierminister Netanyahu: „Demonstrationen und Streiken wird niemandem helfen. Diejenigen, die Israel erreicht haben, bevor wir die Grenze geschlossen haben, sollen zurückgeführt werden. Diese Menschen sind keine Flüchtlinge, es sind illegale Wirtschaftsmigranten, die in unser Land eingedrungen sind, um hier zu arbeiten.“

Dieser Meinung ist auch Arie Raveh, langjähriger Manager der veganen Restaurantkette Budda Burger in Tel Aviv. Der gebürtige Österreicher ist vor 20 Jahren ausgewandert und gilt in Israel als einer der wichtigsten Fürsprecher von Tierrechten und Veganismus. Der Chefkoch in seinem Restaurant ist aus Eritrea, fünf weitere Küchenhelfer sind ebenfalls Eritreer oder Sudanesen. „Wenn ich die Wahl hätte, würde ich natürlich lieber Israelis einstellen. Aber solche Qualität bekomme ich von Einheimischen nicht. Ja, es sind gute, anständige Leute und sie arbeiten gut. Aber was erwarten sie eigentlich von unserem Land? Israel ist nicht Europa, wir haben genug eigene Probleme. Ihre Proteste werden ihnen nicht helfen, weil Israelis sich schlicht und einfach nicht dafür interessieren.“

Foto: Yotam Gibron

Viele Israelis teilen diese Einstellung. Die meisten in der Bevölkerung übernehmen die Rhetorik der Regierung, viele sind schlicht desinteressiert. Dass die Protestbewegung die Aufmerksamkeit berühmter israelischer Persönlichkeiten wie Ministerpräsident Shimon Peres oder des Schriftstellers und Friedensaktivisten David Grossman erregt haben, gilt als großer Triumph für die Flüchtlinge. Doch auch mit prominenter Unterstützung ist es fraglich, ob die Bewegung politische Konsequenzen wird erwirken können.

Identitätsängste versus Moral

Die Realität wird in Israel einheitsstiftend in ein „Wir gegen den Rest der Welt“ umgedeutet. Im Kindergarten, auf der Straße, in der Armee, im Fernsehen. „Aus 60.000 können leicht 600.000 werden, wenn wir das Problem nicht in den Griff bekommen“, sagte Netanjahu bereits 2012 hinsichtlich der Flüchtlingsproblematik. „Das wird dazu führen, Israels Grundsäulen als jüdischen und demokratischen Staat zu untergraben.“ Im Vergleich mit seinen Parlamentskollegen klang das noch freundlich. Tatsache ist, dass Israel seit der Errichtung eines Grenzzaunes zu Ägypten keine Neuankömmlinge verzeichnet hat, vielmehr haben Tausende das Land aus Hoffnungslosigkeit verlassen. Ihre Zukunft ist ungewiss.

Politische Aktionen sind dominiert von einer Angst, die jüdische Identität des Staates demographisch zu gefährden, wenn Flüchtlinge nicht mehr als temporäres Unheil, sondern als fester Bestandteil der israelischen Gesellschaft anerkannt würden. Dabei lassen die nackten Zahlen keine wie auch immer verstandene Gefährdung erkennen: Prozentual machen die Flüchtlinge nur etwa 0,6% der Bevölkerung aus, im Kontrast dazu stehen beinahe 21% der Araber, die seit Generationen in Israel leben. Hinzu kommt, dass Israel jährlich etwa 70.000 temporäre Arbeitsvisa an Migranten für den Niedriglohnsektor ausstellt – ein Beweis für die wirtschaftliche Abhängigkeit des Staates von Migration. Würde der Staat statt dieser Arbeitsvisa Flüchtlingen Rechte zugestehen, wäre beiden Seiten geholfen.

 

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