Das Rationaltheater zeigt Die Sehnsucht der Veronika Voss
Nach langer Zeit zeigt das Rationaltheater an der Münchner Freiheit wieder eine eigene Theaterproduktion. Dominik Frank inszeniert Die Sehnsucht der Veronika Voss nach dem Film von Rainer Werner Fassbinder und beweist eindrücklich, dass dessen 30. Todestag nicht nur von Residenztheater und Kammerspielen gefeiert wird. Premiere ist am 1.April 2012.
Seit seiner Gründung 1965 hat das Schwabinger Rationaltheater einen einzigartigen Ruf. 61 Strafanzeigen unter anderem wegen Gotteslästerung und Beschimpfung des Staatsoberhauptes brachte dem Gründer Reiner Uthoff sein kompromissloses, provokatives Programm ein. Deutschlandweite Skandale wie eine Gegendemonstration von Nonnen gegen Tatort Vatikan in Bonn machten die Kabarettbühne schnell zu einem politische brisanten Ort, der für Furore sorgte und Prominenz anzog. Willy Brandt, Rudolf Augstein und Günther Grass sind nur ein paar der Namen, die ihren Weg ins Gästebuch des Rationaltheaters fanden.
Als Uthoff den Spielbetrieb nach 30 Jahren aufgab, fiel die Bühne in einen langen Dornröschenschlaf, aus dem sie erst 2006 der Sohn Max Uthoff wieder erweckte. Seit 2008 leitet der Filmemacher und Produzent Dietmar Höss das Rationaltheater. Nach diversen Filmabenden, Konzerten und Gastspielen hält nun eine Theaterproduktion Einzug in die Hesseloherstraße, die er selbst in Auftrag gegeben hat.
Die Truppe um Regisseur Dominik Frank hat sich in ihrer Themenwahl mit dem Fassbinder-Fieber anstecken lassen, das in München um sich greift. Wie Martin Kusej am Marstall (Die bitteren Tränen der Petra von Kant) und Stefan Pucher an den Kammerspielen (Satansbraten) hat auch er sich ein Topos des legendären Autors und Filmemachers vorgenommen. Vor genau 30 Jahren erhielt Die Sehnsucht der Veronika Voss, Fassbinders vorletzter Film, die Auszeichnung des Goldenen Bären auf der Berlinale. Wenige Monate später verstarb der Künstler im Alter von nur 37 Jahren in München an Herzversagen und ist seit jeher zur Legende des deutschen Films avanciert.
In seiner BRD-Trilogie verhandelt Fassbinder 12 Jahre deutsche Nachkriegsgeschichte. Eingebettet in Die Ehe der Maria Braun (1978) und Lola (1981) bildet Die Sehnsucht der Veronika Voss (1982) das Herzstück seiner Trilogie. Alle Figuren kämpfen in einem System der (Selbst-)Kontrolle und üben dabei wechselhaft die Positionen der Macht und/oder Ohnmacht aus.
Veronika Voss, erfolgreiche UFA-Schauspielerin unter Joseph Goebbels, leidet zehn Jahre nach Kriegsende unter schweren Depressionen. Eine kaputte Ehe und fehlende Rollenangebote machen ihr das Leben zur Hölle. Sie flüchtet sich in ihre Filmstar-Erinnerungen und stillt ihre Schmerzen mit Rauschmitteln. Schließlich begibt sie sich in die Hände einer Nervenärztin: Dr. Marianne Katz. Eines Abends tritt dann der Sportjournalist Robert Krohn in Veronikas Leben und ihr wird auf einmal klar, dass sie doch noch eine Sehnsucht besitzt, die auch die ärztliche Betreuung nicht stillen kann. Es ist eine Sehn-Sucht, die sie im Grunde mit allen Beteiligten teilt: die Sehnsucht nach reiner Liebe, nach Anerkennung und Wahrheit.
Im Versuch, sich mit Robert in ein neues Abenteuer zu stürzen, muss Veronika erkennen, dass sie ihre Selbstständigkeit längst verloren hat. Robert, bei dem Veronika nicht nur journalistisches Interesse geweckt hat, versucht gemeinsam mit seiner Freundin Henriette die Wahrheit über Veronika herauszufinden. Dabei spielen die mysteriöse Ärztin Frau Dr. Katz und ihre Partnerin Josefa eine größere Rolle als zunächst gedacht. Die Suche nach Veronika führt auch zu einem seltsamen alten Ehepaar, den Treibels, und zuletzt zu Veronikas Vergangenheit: ihrem ehemaligen Gatten Max. Am Ende fordert die Sehnsucht der Veronika Voss vier Tote.
Fassbinder wäre nicht Fassbinder, würden sich hinter diesen kriminellen Verstrickungen nicht noch viel größere Strukturen von Macht, Ohnmacht und Abhängigkeit innerhalb eines gesellschaftlichen Systems verbergen. Im Fall von Veronika Voss sind es nicht nur die Figuren, es ist der Staat, vertreten durch das Gesundheitssystem, der seine Macht über Kontrolle ausübt und missbraucht: „Alle Verschreibungen von Opiaten laufen über meinen Tisch. Sonst könnte ja jeder seinen eigenen Rauschgiftring gründen, nicht wahr? Das ist ja die Pflicht des Staates geradezu: Dass er seine Bürger auch vor sich selbst schützt, schlimmstenfalls“, heißt es dort. Schnell zeigt sich die Doppelmoral in der (bewusst geschaffenen) Abhängigkeit von Nehmenden und Gebenden. Hier missbraucht der Staat seine Macht, um Abhängigkeit und Hörigkeit von den Schutzflehenden zu erlangen.
Auch aktuell werden wir unentwegt Zeuge, wie „perfekt“ unser staatliches (Kontroll-)System ist: Eine verpfuschte Aufklärung an einer Nazi-Mordserie „erschreckt“ die liberale Gesellschaft, eine Wirtschaftskrise „überrascht“ Millionen von Menschen, ein zurückgetretener Bundespräsident wirft einmal mehr die Frage auf, wie leicht die Begriffe Macht im Amt und Amtsmissbrauch in der gewöhnlichen Praxis verwechselt werden können. Fassbinder stellt die ewige Frage nach der Macht des Einzelnen gegenüber einem perfekt organisierten (menschengeschaffenen) System.
Vorbild für Veronika Voss war die ehemalige UFA-Schauspielerin Sybille Schmitz (1909-1955). Als sich die unter Depressionen leidende Schauspielerin mit einer Überdosis an Schlaftabletten in München das Leben nahm, war Fassbinder elf Jahre alt. „Als ich anfing Filme zu machen, wollte ich mit Sybille Schmitz eine Rolle besetzen. Sie sollte die Mutter der Petra von Kant spielen. Da erfuhr ich, dass sie einfach tot ist. Einfach tot. Und niemand wusste Genaues über ihr Schicksal. Ich hab‘ mühsam und heimlich erfolglos recherchiert, auch bei Gericht. Die Geschichte hat mich nicht mehr losgelassen“, so Fassbinder in einem Interview.
Dominik Frank hat einige Erfahrung, was die Inszenierung von politisch anspruchsvollen Stoffen angeht. Während seines Theaterwissenschaftsstudiums leitete er bis 2010 das freie Theaterensemble Ridere in publico (R.I.P.) in Rosenheim und realisierte dort u.a. Lulu, Die Möwe, Psychose und Ödipus/Antigone. Auch seine jüngste Inszenierung von Heiner Müllers Anatomie Titus Fall of Rome im Keller der kleinen Künste in München zeigt das Interesse des Jungregisseurs an historischen Stoffen mit aktuellem Bezug. Gerade arbeitet er an seiner Promotionsarbeit an der LMU.
Zusammen mit der Dramaturgin Charlotte Bucka hat er aus dem Drehbuch von Peter Märthesheimer und Pea Fröhlich eine eigene Fassung für das Theater erarbeitet. Die Rollen sind ausschließlich weiblich besetzt (Nadine Badewitz, Eleonora Godwin, Marie Golüke, Anna März, Aline Mauch, Ria Schindler).
Premiere: 1.April 2012
weitere Aufführungen: 22.4., 29.4., 13.5., 14.5., 20.5., 21.5., 10.6., 11.6., 17.6., 18.6.
Einlass: 19.00 Uhr
Beginn: 20.00 Uhr
Reservierungen unter ticket@rationaltheater.de
Telefon: 089/33 50 03
Hesseloherstr.18
80802 München
Fotos: Florian Freund