Online Stadtplan

Eine ferne Welt, die auch München heißt

Das Projekt historey wirft einen etwas anderen Blick auf Giesing

Wie oft laufen wir blind durch unseren Alltag, mit Scheuklappen vor den Augen, den Blick starr nach vorne gerichtet? Wir eilen und eilen und nehmen keine Notiz davon, was um uns herum passiert. Nicht der Weg ist mehr das Ziel sondern Zweckmäßigkeit bestimmt die Pfade, auf denen wir wandeln. Welche Schätze dabei am Wegrand liegen bleiben und wie man diese künstlerisch nutzen kann, zeigt das Kollektiv Cadam mit seinem Projekt historey. Ladengeschichten Giesing.

Der zweitälteste Kiosk der Stadt bei Nacht.
Foto: Nina Hölzl

Eine schmale, gepflasterten Gasse. Schlichte, einstöckige Häuser, von denen hier und da der Putz abblättert. Blumenkästen und kleine Bänke vor den hübschen Haustüren. Ein Bild kommt einem in den Sinn: Handwerker, die in mühseliger Handarbeit Taschen, Schuhe oder Hüte herstellen. Die Feldmüllersiedlung in Obergiesing versetzt einen zurück in ein bäuerliches Dorf Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Wohnsiedlung ist ein wahres Schmuckstück und man kann sich kaum vorstellen, dass es so etwas bei uns in München zwischen all den Luxustempeln noch gibt.

Auf Überraschungen wie diese stößt man zu dutzenden auf einem nächtlichen Stadtspaziergang durch Giesing. Es gibt sie überall: diese unauffälligen Orte, die eine Schnittstelle zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart darstellen. Sie scheinen wie Reliquien aus einer anderen Zeit, die daran erinnern, wie es früher einmal war, aber auch zeigen, wie aus Altem Neues entstehen kann. Mit vielen lustigen, netten und auch melancholischen „Gschichterln“ erzählen Anna Donderer und Juliane Rahn, die Organisatorinnen von historey in Giesing, von einem München, das jenseits von Schickeria und Schnöselei liegt.

Zum Beispiel über die Eva, die am Gipfel des Nockherbergs den zweitältesten Kiosk Münchens betreibt und gar nicht genug von ihrem grandiosen Grandauer Gebräu schwärmen kann. Oder über Dalibor Rasevic, einen Immigranten aus Bosnien-Herzegowina, der eine uralte Giesinger Schuhwerkstatt davor gerettet hat dicht machen zu müssen. In der TeLa (Tegernseer Landstraße) treffen wir Gabi, die das Schau ma moi betreibt. Der kleine Trambahnstationsbau hat vom Ausstatter für Arbeitskleidung über einen Dönerladen bis hin zum Stehausschank alles mitgemacht – hier haben sich sogar Blaue und Rote bei zwei bis zweiundzwanzig Bierchen kurzweilig versöhnt.

Man könnte jetzt sagen, es sei furchtbar nostalgisch so in der Vergangenheit zu schwelgen und all diesen unzeitgemäßen Dingen nachzuhängen. Doch historeyist in Wirklichkeit weniger

„da derma nix mea“ in Giesing.
Foto: Nina Hölzl

Schwelgerei als ganz einfach eine Einladung zur Entschleunigung. „Hetzt nicht so durch eure Stadt! Bleibt doch auch mal stehen und nehmt euch die Zeit genauer hinzusehen.“ Anna Donderer will dazu ermuntnern die Stadt nicht nur in ihrer Zweckmäßigkeit zu sehen, sondern auch den Charme zu entdecken, den München erst interessant und lebenswert macht. Mit ihren liebevoll ausgewählten Anekdoten – auf Postkarten gedruckt und in Fahrradkörben in ganz Giesing verteilt – bringen sie uns diese versteckte Seite der Radlhauptstadt näher.

Ungenutzte Ladenräume mit Leben füllen

Das Projekt historey ist jedoch nicht nur eine Geschichtsstunde der etwas anderen Art. Es stellt auch eine neuartige Form von Kunstkultur dar. Denn wo das Damals ins Heute übergeht, entsteht oft ein Vakuum, das Raum für künstlerische Entfaltung und Nährboden für eine kreative Nutzung bietet. Diese Leerstellen nutzen die Macherinnen und Macher von historey um die Kunst – in diesem Fall Tanz und Performance – auf neuartige Weise der Gesellschaft näherzubringen. Denn man mag es kaum glauben: Selbst in München, wo Mietwahnsinn und Wohnungskonkurrenz an der Tagesordnung sind, gibt es eine Vielzahl von leeren Ladenräumen, die mal kürzer und mal länger von niemandem genutzt werden. Laut Anna Donderer hat München haufenweise solcher städtischer Leerstellen zu bieten. „Es ist allerdings meistens sehr schwierig an diese heranzukommen. Viele Vermieter sind nicht gerade offen gegenüber einer alternativen künstlerischen Zwischennutzung, wie wir sie machen.“ Typisch München eben.

Doch wie immer bestätigt die Ausnahme die Regel – ganz besonders in Giesing. Familie Maier zum Beispiel, die eines der Prachtstücke in der Feldmüllersiedlung bewohnt, fand die Idee von Vornherein klasse. Die Maiers sind gerade dabei das 1840 erbaute Haus, in dem sich über Jahre hinweg eine Täschnerei befand, zu renovieren – das Erdgeschoss ist immer noch ein Rohbau und soll auch weiterhin gewerblich genutzt werden. Inmitten von Schreinertischen, Werkzeugkästen und Farbtöpfen steht Martin Hansen, der sich in seiner Choreographie mit der Geschichte des Raumes auseinandersetzt. Halb pantomimisch, halb tänzerisch bewegt er sich zwischen Staub und Gerätschaft und wirkt dabei tatsächlich so, als ob er gerade hart am Arbeiten wäre. Der im roten Overall versteckte Körper wird eins mit seiner Umgebung; der Besucher wirkt fast wie ein Voyeur, der diese natürliche Szene mit seinen Blicken stört.

Stephanie Felber zeigt den Menschen als leere Hülle.
Foto: Nina Hölzl

Das glatte Gegenteil von Natürlichkeit bietet die zweite Perfomance des Abends. Ein Mädchen in hautfarben-transparentem Minikleid steht auf knallpinken Gummi-Badematten in einem von Chemiegeruch geschwängertem Raum. Ein anstrengendes Geräuschchaos aus viel zu lauten Boxen durchdringt den halbleeren Laden und unterlegt die roboterhaften Bewegungen der jungen Frau. Die Szene ist an Künstlichkeit kaum zu übertreffen und relativ schnell hat man den unnachgiebigen Drang das Geschehen wieder zu verlassen. Bei Stephanie Felbers Choreographie löst sich der Mensch als solcher auf, wird zur Maschine, zur leeren Hülle, die auf Äußerlichkeit reduziert und auf simple Bewegungen programmiert wird. In einem Ladenraum, der einst Bräunungsstudio war und mittlerweile eine Hemdenreinigung beherbergt, erscheint diese Interpretation durchaus einleuchtend.

Mit ihren Choreografien verbinden die beiden Tänzer ihre Kunst mit der Geschichte Giesings und verarbeiten die Vergangenheit sowie die Gegenwart der leeren Ladenräume. So versuchen sie beides für die Menschen zugänglicher zu machen und ein gewisses Bewusstsein zu schaffen. Anna Donderer findet, dass „Tanz etwas höchst Intellektuelles“ ist, „das aber ohne hochgestochenen Worterguss auskommt.“
Inwieweit man den Hansi oder die Ursl aus Obergiesing, die gerne mal im Schau ma moi zwei Halbe zischen, mit solch intellektuellen und verkopften Performances näher an die Kunst bringt, sei dahin gestellt. Doch selbst wenn man mit Performance-Kunst wenig am Hut hat; eines nimmt man mit Sicherheit vom abendlichen Spaziergang durchs schöne Giesing mit: ein Bewusstsein für die kleinen Schmuckstücke dieser Stadt, die an jeder Ecke auf einen warten. Man muss nur die Augen aufmachen und näher hinschauen – und schon eröffnet sich ein neues Universum. Oder wie Ernst Hoferichter einst schrieb: „Und sollte ein Münchner in den nächsten Jahren wieder ein Reise tun, so fahr’ er nach Giesing – in eine ferne Welt, die auch München heißt – und ist.“

Für dich vielleicht ebenfalls interessant...