Kulturphilter

Ein praktischer Lückenfüller

(c) Wilfried Hösl
(c) Wilfried Hösl

La bohème an der Bayerischen Staatsoper

Eine Inszenierung von Puccinis Oper La bohème aus dem Jahre 1969 weckt viele Erwartungen. Denn nur zu gut eignet sich die Geschichte der vier Künstlerfreunde, die verarmt in Paris leben, für eine Interpretation im Sinne der 68er Bewegung. Eine alternative Lebensform, ein verplantes WG-Leben (ähnlich einer Kommune), antikapitalistische Einstellung. Das alles sind Charakteristika, die für Bohémiens genauso gelten wie für die Revolutionäre der sechziger Jahre. Eine Interpretation des Stoffs in diese Richtung bietet sich also mehr als an.

Doch weit gefehlt, all diese Erwartungen an die Inszenierung von Regisseur Otto Schenk, die noch immer regelmäßig in der Bayerischen Staatsoper zu sehen ist, bleiben unerfüllt. Gar das Gegenteil ist der Fall. Der Vorhang öffnet sich einem werktreuen Szenario, das mit Liebe fürs Detail das Paris der Jahrhundertwende einfängt; die Sänger tragen der Zeit entsprechende Kleider und die Beleuchtung versucht möglichst realistische Lichtverhältnisse herzustellen. Bis auf einige wenige originelle Ideen bleibt auch das Schauspiel stets in konventionellen Bahnen, was so viel heißt wie: Viel Musik, wenig Bewegung. Eigentlich ist das eine durchaus verbreitete und akzeptable Regieentscheidung, nur geht Schenk zum Teil so weit, dass die Vorgaben des Librettos nicht mehr erfüllt sind. Ein Beispiel dafür ist die Schlussszene, in der Mimì, die Geliebte des Protagonisten Rodolfo, an Tuberkulose verstirbt. Rodolfo wird erst durch das nervöse Hin- und Herlaufen seiner Freunde bewusst, dass Mimì gestorben ist. Auf der Bühne aber sieht man weder ein Hin noch ein Her, nicht einmal ein Treten von einem Fuß auf den anderen. Befremdlich ist auch, dass die todkranke Mimì während der gesamten Oper nur ein einziges Mal hustet.

 

Trotzdem hält die Oper das Publikum stets bei Laune. Das liegt natürlich erst einmal an dem unterhaltsamen Libretto und der eingängigen Musik Puccinis, aber auch das spektakuläre Bühnenbild und das große Aufgebot an Statisten tragen ihren Teil dazu bei. Musikalisch ist die Münchner Inszenierung auf höchstem Niveau, auch wenn Rodolfo (Joseph Calleja) ein zu starkes tremolo und gelegentliche Schwächen in den hohen Lagen nicht ganz verstecken kann. Das Orchester der Staatsoper gibt unter der Leitung von Marco Armiliato wie immer eine glänzende Vorstellung.

Und trotz ihrer Konventionalität vermag es die Regie dann doch, den Zuschauern einige Denkanstöße mit auf den Weg zu geben. Zu Beginn der Oper, als die vier bettelarmen Künstler in ihrer Wohnung versammelt sind, nimmt der Musiker Schaunard ein Bild des Malers Marcello in die Hand und dreht es etwas ratlos hin und her. Das lässt zweierlei Deutungen zu: Zum einen könnte es Ausdruck der beginnenden abstrakten Kunst zur Jahrhundertwende sein, die keine eindeutige Blickrichtung des Betrachters mehr vorgibt, zum anderen kommt hier wohl ein leiser Zweifel an der Begabung der selbsternannten Bohémiens auf.

Ansonsten sind vergleichbare intellektuelle Leckerbissen jedoch sehr dünn gesät, das ganze Geschehen auf der Bühne wirkt vielmehr wie ein rein illustratives Unterfangen, das Puccini nichts Neues hinzufügt.

 

Klassisch oder unkreativ?


Derartig gestaltete Inszenierungen sind ein Segen für jedes Opernhaus, weil sie zeitlich unbegrenzt einsetzbar sind und die wenige Aktion auf der Bühne von den Sängern sehr schnell einstudiert werden kann. Außerdem locken sie viel Publikum an, denn spektakuläre Bühnenbilder kommen immer gut an, wie die Arena von Verona und viele andere Freilichtbühnen zur Genüge bewiesen haben. Kurz, ein wunderbarer Lückenfüller, falls ein Loch im Spielplan gestopft werden muss.

Hat Otto Schenk also deshalb eine klassische Inszenierung gewählt? Um möglichst lang gespielt zu werden? Um eine gewisse Allgemeingültigkeit zu erreichen, die unabhängig von der Entstehungszeit ist? Oder hatte er schlicht zu wenige Ideen für etwas anderes?

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