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Drei Hausdiener und ein Koalitionsfall?

Wahl in Großbritannien

Wer wird nun im Londoner Unterhaus dem britischen Volk dienen? Weder die Tories noch Labour haben die nötige Mehrheit – und die Liberal Democrats sind schwächer als erwartet. Was bedeutet das ungewohnte hung parliament für die Briten?

Leeds am Morgen des Wahltags. Überall halten Leute Wahlbenachrichtigungen in den Händen; die blauen für die Stadtratswahlen, die weißen für die Parlamentswahlen. Universitätsgebäude werden zu Wahlbüros – und Erasmus-Studenten zu britischen Wählern. Die blauen Karten sind im Laufe der vergangenen Wochen auch an die registrierten Austauschstudenten aus den EU-Staaten versandt worden. Es ist die Gelegenheit, Parlamentswahl-Luft zu atmen.

Nicht genug, dass die Briten und der Rest der Welt nach dem Wahlergebnis ohne klare Mehrheit in einer ungewohnten Wartestellung verharren müssen – für manche endete der Gang zur Urne noch vor der Stimmabgabe. In manchen Wahlkreisen gab es nicht genügend Wahlscheine oder Wahlkabinen aufgrund der unerwartet hohen Wahlbeteiligung. Und so blieben möglicherweise Tausende Briten ‚would-be voters’. Warum aber wollten diesmal so viel mehr Briten wählen?

Lange Zeit war die Wählerschaft geteilt in Labour– und Tories-Unterstützer. In manchen Wahlkreisen gibt es nicht einmal Kandidaten für Parteien wie die Grünen. Denn Großbritannien ist nicht an ein Mehrparteien-System gewöhnt. Die Liberal Democrats waren jahrzehntelang eine relativ unbedeutende Größe in Westminster. In den Wochen vor den general elections, am 06. Mai 2010, aber wurde alles anders. Nick Clegg, der Kandidat der Liberal Democrats, schien die verkrustete Entweder-Oder-Routine aufgebrochen zu haben.

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte?

Punkt 22 Uhr, BBC World Service, die erste Statistik aus der Wählerbefragung nach dem Schließen der Wahllokale. Kein Wahlsieg ist die Hauptnachricht, sondern eine Niederlage: Nick Clegg ist der Verlierer der Wahlen. Sie haben fünf Sitze weniger als im vorigen Parlament. Zwar werden sie als ‚kingmaker’ umworben; kommt jedoch keine Einigung zustande, weder mit der Tory noch der Labour Partei, könnte durchaus eine Minderheitenregierung aufgestellt werden – ohne die Lib Dems.

Die Briten haben ein sogenanntes hung parliament gewählt, zum ersten Mal seit 1974. Überraschend ist, dass die Rolle der Liberal Democrats dabei eine kleinere ist, als die Einschätzungen vor der Wahl prophezeiten.

Die Medien hinterfragen sich selbst auf der Suche nach einer Erklärung für diese Differenz. Meinungsumfragen und Berichterstattung nach den TV-Debatten sahen Clegg als Gewinner; sie trieben die Spekulationen der Medien, die Hoffnungen der Liberal Democrats und die Ängste ihrer Gegner nach oben.

Die Neuerung, die Kandidaten in Fernsehdebatten miteinander zu präsentieren, war selbst ein Politikum. Nie zuvor hatten sich Kandidaten einer öffentlichen Konfrontation gestellt. Plötzlich mussten die Briten ihre Polarisierung aufgeben und ihre Aufmerksamkeit auf drei Parteien verteilen.

Nach 13 Jahren Labour, Beteiligung an zwei Kriegen, Ausgaben-Skandal und Bankenkrise witterte Clegg seine Chance. Er nutzte den Überdruss der Bevölkerung mit den etablierten Parteien und deren Vertretern, die ihre Vertrauenswürdigkeit verspielt hatten. Die Konservativen riefen nach Obama’schem change. Doch damit riefen sie auch Nick Clegg auf den Plan. Nicht der glatte Eton-Absolvent David Cameron wird mit Obama verglichen, sondern der junge, unverbrauchte und liberale Clegg. Er ließ auch den politisch bejahrten Brown alt aussehen. Nick Clegg und seine Parteifreunde kamen unbeschadet aus dem expenses scandal. Sie stehen eher für Veränderung als die traditionellen Parteien und betonten die Unterschiede zu deren Programmen. Cleggs Wirkung auf die Meinungsumfragen war mächtig. Seine tatsächlichen Wahlergebnisse sind es nicht.

Der Insel neu, dem Kontinent bekannt

Die Lib Dems sind unzufrieden mit dem Wahlsystem, das ihnen aufgrund von first past the post nur 57 Sitze zuteilt; mit dem Verhältniswahlrecht wären es über 100, so ein Parteikollege Cleggs. Mit dem Wunsch nach einer Änderung des Wahlsystems steht die dritte Kraft im Vereinigten Königreich nicht allein. Viele Briten wünschen sich eine gerechtere und klarere Repräsentation ihrer Stimmen im Parlament. Geht es um die Bildung einer Koalition, rückt eben dieser Punkt im Wahlprogramm die Liberal Democrats in die Nähe von Labour. Brown hat ein Referendum über das Wahlsystem angeboten. Die Tories dagegen lehnen dies noch ab. Wer auch immer regieren wird: Unangenehme Kürzungen müssen durchgesetzt werden. Unbeliebt macht das in jedem Falle.

Bereits fest steht hingegen: Einige Schritte zur wirklichen Repräsentation der vielfältigen Bevölkerung sind getan. Die ersten weiblichen ‚Asian’ MPs wurden gewählt. Und zum ersten Mal gibt es ein grünes Parlamentsmitglied – deutlich später als in anderen europäischen Ländern. Die Diskussionen auf BBC kehren jedoch immer wieder zurück zum hung parliament und zum Faszinosum kontinentaler Koalitionen. Manchmal dauere es dort Wochen oder gar Monate, bis eine Regierung feststehe, staunt man. Großbritannien wählte sich ein Stückchen näher an die politische Realität des europäischen Kontinents.

(Foto: Sophie Rohrmeier)

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