Interview Politikus

Das ist Kakuma

Von: Anna Sophia Hofmeister

Ivy Quainoo Copyright: Universal Music
Ivy Quainoo
Copyright: Universal Music

Wenn Ivy Quainoo nicht gerade für einen Videodreh mit folkloristischem Haarschmuck im Wald herumturnt oder als Model über den Laufsteg einer Fashion Week rauscht, probiert sie neue Musikrichtungen aus. 2012 gewann die heute 23-jährige Berlinerin mit ghanaischen Wurzeln die erste Staffel der Casting-Show „The Voice of Germany“, sie veröffentlichte zwei Alben, landete in den Single-Charts, erhielt einen Echo und zwei Goldene Schallplatten für mehr als 200 000 verkaufte Alben. Doch Ivy will mehr als nur das Gesicht einer Casting-Show sein.

Seit 2013 ist sie neue Botschafterin der Organisation „Gemeinsam für Afrika“. Ivys Ziel: Ein realistisches Bild von Afrika und seinen Menschen zu vermitteln – und das in einer Zeit, in der viel über Flüchtlinge und ihre Motive spekuliert wird.

Ivy, als Unterstützerin von „Gemeinsam für Afrika“ bist Du nach Kenia gereist, um das Flüchtlingslager Kakuma zu besuchen, wo derzeit fast 200 000 Menschen aus mehr als 20 Nationen Schutz suchen. Als Du angekommen bist: Was hast Du dort gesehen?

Das Erste, was wir gesehen haben, war die Neuankömmlingsstelle für Kinder, die allein den weiten Weg ins Flüchtlingslager gefunden haben. Ich war ziemlich überwältigt von der Tatsache, dass diese Kinder und Jugendlichen alleine dort waren, ohne zu wissen, wo sich ihre Eltern oder Geschwister befinden – die jüngsten von ihnen sind erst sechs Jahre alt. Sie bleiben zwei Wochen in der Neuankömmlingsstelle und werden dann in das Flüchtlingslager gebracht und meistens von anderen Flüchtlingsfamilien aufgenommen. Überrascht hat mich auch das Flüchtlingslager an sich – ich habe es mir zuerst als Zeltlandschaft vorgestellt, aber es ähnelt eher einer kleinen Stadt.

Wie sieht der Tag eines Geflüchteten in Kakuma aus?

Besonders beeindruckt hat mich der Alltag der Kinder, die ohne Eltern in Kakuma sind und in den so genannten von Kindern geführten Haushalten leben. Das heißt, dass sich die ältesten Geschwister um die jüngeren kümmern. Für sie fängt der Tag früh an, zuerst bereiten sie das Frühstück für die Kleineren vor und bringen sie dann zur Schule. Nur an den Tagen, in denen im Camp die Nahrungsmittelausgabe stattfindet, müssen die Kleinen alleine in die Schule gehen. Die älteren Geschwister gehen dann zur Nahrungsmittelausgabe, wo sie Lebensmittel und andere Artikel für die alltägliche Versorgung erhalten. Wenn dann noch Zeit übrig ist und sie das Glück hatten, einen der heißbegehrten Plätze im Ausbildungszentrum bekommen zu haben, besuchen sie dort die Kurse. Um 14 Uhr kehren die kleinen Geschwister in der Regel von der Schule zurück und anschließend wird gemeinsam zu Mittag gegessen. Nachmittags fallen Hausarbeiten an, Wasser holen, Wäsche waschen, etc. Da helfen die kleineren Geschwister auch oft mit. So oft wie möglich, besuchen sie das Cyber Café, um sich über die Lage in ihrer Heimat zu informieren. Alle freuen sich auf den Abend, denn ab 17 Uhr wird Fußball gespielt – es gibt viele Mannschaften im Camp. Da die Sonne schon um 18 Uhr untergeht und es keinen Strom gibt, gehen alle früh ins Bett.

Wie geht es den Kindern? Wie verbringen sie in Kakuma ihre Zeit?

Kinder und Jugendliche haben die Möglichkeit, in die Schule zu gehen, es gibt viele Grundschulen in Kakuma, allerdings ist die Zahl der Oberschulen gering und die Klassen sind zum Teil sehr überfüllt. Manchmal besuchen bis zu 250 Kinder eine Klasse – die Räume sind so überfüllt, dass die Lehrer kaum Platz haben, etwas an die Tafel zu schreiben. Kinder, die nicht mehr ins Klassenzimmer hineinpassen, versuchen dem Unterricht durch das Fenster zu folgen. Hier wissen alle: Bildung ist die Voraussetzung für alles. Gerade die Mädchen besuchen oft nur die Grundschule und bleiben danach zu Hause, um sich um die Familie zu kümmern.

Warum fliehen Menschen nach Kakuma?

In vielen der angrenzenden Länder herrscht Krieg oder extreme Armut und den Leuten bleibt eigentlich nichts anderes übrig als gezwungenermaßen ihre Heimat zu verlassen. Nur die wenigsten entscheiden sich dazu, ihre Herkunftsregionen komplett zu verlassen und Hilfe in Europa zu suchen. Die meisten Menschen, mit denen ich im Flüchtlingscamp sprach, möchten nicht nach Europa, sondern sehnen sich nach ihrer Heimat. Viele haben auf der Flucht zumindest einen Teil ihrer Familie verloren und wünschen sich nichts sehnlicher, als nach dem Ende der Konflikte zurückzukehren und ihre Familienmitglieder zu suchen. Um diesen Wunsch zu erfüllen, müssen die Fluchtursachen mit langfristigen Lösungen bekämpft werden – es darf nicht nur ihren Symptomen entgegengewirkt werden.

In Kakuma gibt es einige Projekte, um das Leben der Menschen dort zu verbessern. Welche sind das zum Beispiel und welches hat Dir besonders gefallen?

Am besten hat mir die Mütterstation im Gesundheitszentrum gefallen. Pro Woche kommen rund hundert Kinder auf die Welt. Dort kann man das Glück der Mütter richtig fühlen. Jedes Neugeborene ist ein neuer Lichtblick. Doch viele der Neugeborenen sind bereits die dritte Generation im Flüchtlingscamp – für sie wird das Camp ihre Heimat und zugleich ein Ort sein, den sie vielleicht nie verlassen werden können.

Ihr habt auch eine der weiterführenden Schulen, die es in Kakuma gibt, besucht. Was können die Jugendlichen dort lernen?

In den weiterführenden Schulen werden ähnliche Fächer unterrichtet wie auch bei uns an Realschule oder Gymnasium: Englisch, Kiswahili, Mathematik, Physik, Biologie, Geschichte, Geographie, Chemie und so etwas wie BWL/VWL. Der Besuch einer solchen Schule ist Voraussetzung dafür, später einmal studieren zu können – für viele der Campbewohner ein großer Traum und eine der wenigen Möglichkeiten, das Camp irgendwann verlassen zu können. Außerdem gibt es Ausbildungszentren, in denen die Jugendlichen Berufe erlernen können. Kurse gibt es beispielsweise für Englisch, Informatik, Schreinerei, Schneiderei, Elektrik, Elektronik, Werkzeug- und Kfz-Mechanik, Mauern, Sanitärinstallationen, Schweißen und Büromanagement. Die Ausbildung soll die Geflüchteten vor allem auf ein Leben nach dem Camp – in ihrem Heimatland oder außerhalb des Flüchtlingslagers – vorbereiten. Denn innerhalb des Flüchtlingscamps gibt es kaum Jobs.

04.09.15, Nairobi, Kenia - Projektbesuch Kindernothilfe St. Johns Community Center. Copyright: Gemeinsam für Afrika/Trappe
04.09.15, Nairobi, Kenia – Projektbesuch Kindernothilfe St. Johns Community Center.
Copyright: Gemeinsam für Afrika/Trappe

Du bist sicherlich mit einigen ins Gespräch gekommen. Welche Hoffnungen und Wünsche haben die jungen Menschen in Kakuma?

Ich habe beispielsweise Salah getroffen. Der Elfjährige kam zwei Wochen zuvor mit seiner 17-jährigen Schwester Leila im Camp an. Die Geschwister sind zwei von 50 000 Südsudanesen, die vor den Kämpfen in ihrem Land flohen und in Kakuma Schutz fanden. Auf der Flucht brach sich Salah das Bein. Er wurde in einem Schutzzentrum für Flüchtlinge im Südsudan versorgt. Die Behandlung erfolgte nur notdürftig, trotzdem konnte das Bein halbwegs heilen und er somit seine Reise nach Kakuma fortsetzen. Salah erzählte mir von seinen starken Schmerzen und seinen Ängsten, dass sein Bein nie wieder richtig gut wird. Und davon, dass er nicht weiß, wo seine Eltern sind. Aber dann winkt er ab und sagt „Don´t worry, I´m ok“. Dieser tapfere kleine Mann und seine Geschichte beeindrucken mich bis heute.

In den westlichen Ländern werden zurzeit ja hitzige Debatten um Flüchtlinge geführt. Oft ist dabei von Überforderung und Überfüllung die Rede. Welchen Eindruck hast Du diesbezüglich nach Deinem Besuch in Kakuma?

Ich denke, im Westen ist es vergleichsweise leichter, die nötige Infrastruktur zu schaffen und in kurzer Zeit auf enorm hohe Flüchtlingszahlen zu reagieren. In einem Lager wie Kakuma, das auf externe finanzielle Unterstützung angewiesen ist, ist das ungemein schwieriger und gleichzeitig überlebenswichtig. In Kakuma wird schnell offensichtlich, dass die gesamte Infrastruktur unzureichend ist. Es fehlt vor allem an finanziellen Mitteln. Aufgrund des wachsenden Zustroms von weiteren Flüchtlingen aus dem Südsudan werden die Nahrungsmittel knapp. Die Rationen wurden im vergangenen Jahr um 30 Prozent gekürzt. Jedem Camp-Bewohner stehen nur noch 1 400 Kalorien am Tag zu. Die empfohlene Kalorienzufuhr für Männer unter 25 Jahren liegt bei 2 500 Kalorien täglich. Nur knapp 50 Prozent aller Campbewohner sind in angemessenen Unterkünften untergebracht. Diese Zustände finde ich alarmierend. Wir dürfen nicht vergessen, auch in Flüchtlingslagern wie Kakuma zu helfen. Auch diese Menschen brauchen immer noch und auch weiterhin unsere Unterstützung!

Was hat dich persönlich dort am meisten berührt?

Am meisten hat mich die Neuankömmlingsstation für Kinder, die ohne ihre Eltern in Kakuma ankommen, beeindruckt. Die jüngsten von ihnen sind erst sechs Jahre alt und haben bereits Dinge durchmachen müssen, die kein Kind erleben sollte. Die meisten von ihnen haben keine Ahnung, wo ihre Eltern sind, ob sie noch leben und ob sie sie jemals wieder sehen werden. Die Schicksale sind mir schon sehr nahe gegangen. Außerdem hat mich sehr bewegt und beeindruckt, wie selbstlos andere Flüchtlinge diese Kinder aufnehmen und sich um sie kümmern.



Kakuma liegt in Kenia, nahe der Grenze zum Südsudan. Es ist das zweitgrößte Flüchtlingscamp des Landes und besteht seit 1992, als es zunächst für 30 000 bis 40 000 Kinder und Jugendliche aus dem Südsudan errichtet wurde: Den sogenannten „Lost Boys“, die in der Gewalt des zweiten sudanesischen Bürgerkriegs ihre Familien und ihre Heimat verloren. Heute leben in Kakuma Flüchtlinge aus vielen angrenzenden Ländern, zum Teil bereits in der dritten Generation.

Mehr als 20 Hilfsorganisationen unterstützen gemeinsam unter dem Dach des Bündnisses „Gemeinsam für Afrika“ die Menschen in den Flüchtlingscamps mit medizinischer Versorgung, Schulen und Ausbildungsprogrammen, sauberem Trinkwasser und Nahrungsmitteln. Zudem arbeiten sie in Projekten in den Herkunftsländern der Flüchtlinge daran, die Lebensbedingungen der Menschen langfristig zu verbessern und ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, sodass eine Flucht gar nicht erst notwendig wird. Anfang April kündigte die kenianische Regierung jedoch an, Kakuma „aus Sicherheitsgründen“ zu schließen. Man befürchte, dass die somalische Terrormiliz Al-Shabaab in dem Lager Kämpfer rekrutiert. Die internationale Gemeinschaft reagierte auf die Ankündigung mit heftiger Kritik. Daraufhin lenkte Kenias Innenministerium ein und teilte mit, Kakuma vorläufig erhalten zu wollen, da die Terrorgefahr vor allem von dem größten Flüchtlingscamp des Landes, Dadaab, ausgehe. Eine Schließung hätte die Vertreibung von fast 200 000 Menschen zur Folge gehabt.



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