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Zu Besuch im Haus der Kunst – Thomas Struth: Figure Ground

Wangfujing Dong Lu, Shanghai 1997
Chromogenic print
117,5 x 143,6 cm
© Thomas Struth

Von Tabitha Nagy

Die Karten werden kontrolliert und die Aufsichtsdame ermahnt dazu, keine Fotos zu machen. Mit der Versicherung, dass man dies bestimmt nicht vorgehabt habe, betreten wir den ersten Raum der derzeitigen „großen Ausstellung“ im Haus der Kunst, einer Werkschau des Fotografen Thomas Struth. Jeder Raum der Ausstellung will uns einen anderen Aspekt seines Oeuvres näher bringen.

Im ersten Raum begegnen wir einigen Stadtansichten. Was sie fast alle gemein haben, sind die menschenleeren Straßen. Es handelt sich geradezu um Geisterstädte. Bild um Bild sehen wir eine andere Stadt. Berlin, Lima, Petersburg, New York City, Leipzig, Neapel, Paris, Tokio. Wir sehen weder Menschen noch ihre Handlungen. Dadurch sind wir gezwungen, uns auf die Straßenzüge an sich zu konzentrieren: Auf die Architektur, den Straßenverlauf, den Zustand und das Zusammenspiel der Gebäude und Straßen. Oft wirken die Gebäude renovierungsbedürftig, einmal liegt Müll auf der Straße, als wäre soeben ein Sturm durch die Stadt gezogen, hätte alles, was er zu fassen bekam, mitgerissen und schließlich an den Straßenrand gespuckt. Hier und dort fahren oder stehen Autos. Auf einem Bild sehen wir China-Town, einen Straßenzug in San Francisco. Uns begegnen Zeichen des Verfalls, der Armut und vielleicht bevorstehenden Neuanfangs, Zeichen der scheinbar natürlichen Verwüstung, Zeichen historisch gewachsener Städte und großflächig neuer Bebauung sowie Zeichen der Ghettoisierung, der Abgrenzung einer Subkultur, in einem Viertel. Ungewöhnlich scheint hier das Bild aus Jianghan Lu, Wuhan: Wir sehen einen Markt mit vielen Menschen. Bei näherer Betrachtung fällt auf: An den Ständen werden Jacketts und Hemden angeboten, einige der Personen tragen auch diese Kleidung, die sowohl ein eindeutiger kultureller Import ist als auch für eine Globalisierung in der Mode steht – zumindest in der Arbeitskleidung der Dienstleistungsgesellschaft. Nach der Beschreibung an der Wand zu urteilen, wollte Struth genau diese „unbewussten“, da alltäglich schleichenden, „gesellschaftlichen Prozesse“ durch die Fotografie der Architektur, in die sie sich „eingeschrieben haben“, sichtbar machen.

Kabelknäule, Technik und der Mensch

Im nächsten Raum werden wir von Bildern roter, blauer und gelber Kabelknäule, Alu- und Luftpolsterfolie, Chrom und Plastikschläuchen empfangen. Wir sehen Lagerräume von Raumfahrtstationen und Forschungszentren, das Innenleben von höchstkomplizierten Maschinen, Wachsmodelle von Körperteilen und einen OP-Tisch, auf dem unter einer Plastikfolie nur eine kleine Fläche menschlicher Haut zu sehen ist. In diesem Bild scheint das Thema der Fotografien dieses Raumes zu kulminieren. Die Situation einer Operation, die eigentlich eine des Unbehagens und des Blutes ist, wirkt hier weder unheimlich noch abstoßend, wenn auch der Mensch hier nur erahnbar ist und komplett durch die ihn begrabenden Folien und Schläuche anonymisiert wurde. Sein Gesicht, seine Individualität wurde ihm genommen und selbst der Ort ist nicht zuordenbar. Es drückt vielmehr ein positives Interesse aus, zeigt in ruhigen Farben den rein technischen Aufbau der Operation und der Geräte. Auch die Maschinen sind auf diese Weise dargestellt. In satten Farben sehen wir den geradezu sezierenden Blick auf das Innenleben der Geräte, für technische Laien in ihrer Funktion nur anhand der Titel auf den Schildern zu identifizieren. Die Bilder zeigen die Technik als etwas Anonymes, von dem die Menschen abhängig sind. Sie wird jedoch auch mit positiver Neugier als etwas Fortschrittliches, ja vielleicht gar Lebensrettendes gezeigt. In ihrer ganzen Offenheit über ihre Technik bleiben sie uns aber zuletzt doch rätselhaft.

In der Mitte des Raumes sind zwei diagonale Wände eingezogen, auf denen das Archiv Struths gezeigt wird. Wir sehen Skizzenbücher und Fotoabzüge. In diesem Bereich findet sich auch ein riesiges Bild von Besuchern eines Aquariums. Sie stehen vor der Glaswand und bewundern die exotischen Fische. Manche der Menschen machen gerade Pause oder zeigen ihren Kindern ein besonderes Tier in dieser künstlich angelegten Unterwasserwelt.

Tokamak Asdex Upgrade Periphery, Max Planck IPP, Garching 2009
Chromogenic print
109,3 x 85,8 cm
© Thomas Struth

Kunst und Betrachter – Inszenierung und Rezeption

Wir gehen weiter in den nächsten Raum. Ein Foto einer Wand, an dem ein durch eine Kordel abgesichertes Gemälde hängt, leitet uns zum nächsten Thema über. In diesem Raum wird das Verhältnis von Betrachter und Werk sowie die Inszenierung von Kunst behandelt. In dieser Reihe der Museum Photographs sehen wir Besucher einer Kirche – San Zaccaria in Venedig –, die vor einer überbordend geschmückten und bemalten Wand stehen oder diese auch ignorieren und andächtig in den Langbänken sitzen. Wir sehen die betulichen, entspannten Besucher vor der Tragödie des Floß der Medusa von Géricault im Louvre kontemplieren und die Menschenmassen, die sich vor das aufwändig im Leuchtkasten inszenierte La Liberté guidant le peuple von Delacroix in Tokio drücken.

Struth zeigt und fragt hier nach dem Umgang mit Kunst in der Präsentations- und Rezeptionsweise. Ähnlich scheint zunächst das Werk Audience, das mehrere Fotografien der Fläche vor der Davidsstatue von Michelangelo und vor allem ihrer Betrachter in der Galleria dell’Academia in Florenz zeigt. Doch der Unterschied liegt darin, dass der Fokus hier auf der Rezeption von und der Reaktion auf die Kunst liegt. Anders als in den Museum Photographs sehen wir hier nicht bloß den Rücken der Betrachter, wodurch wir schnell eine einheitliche Bewunderung des Werkes annehmen. Hier können wir in den Gesichtern und anhand der Körpersprache die vielfältigen Reaktionen auf die Kunst ablesen bzw. interpretieren. Sie reichen von dem erwarteten Erstaunen über Skepsis und Erschöpfung bis zu offensichtlichem Desinteresse.

Die Queen, das Westjordanland und neue Paradise

Im nächsten Raum begegnet uns nicht nur die Queen, sondern auch zahlreiche gewöhnliche Menschen, die zusammen mit ihren Familienmitgliedern abgelichtet sind. Beim Betrachten ertappen wir uns, wie wir ihre Beziehungen zueinander – sowohl in der Art der Verwandtschaft als auch in ihrem persönlichen Verhältnis – zu erfahren versuchen.

Die übrigen Räume zeigen uns die Reihe This Place, die einige über mehrere Jahre entstandene Fotografien Struths aus Israel und dem Westjordanland zeigt, sowie New Pictures from Paradise, Bilder von Urwäldern aus aller Welt, die, zumindest für den botanischen Laien, nicht ohne den Titel geografisch zuordenbar sind. Außerdem finden wir eine Reihe von Fotografien, die für Krankenhäuser geschaffen wurden und die Umgebung – in Aufnahmen von Wegen an Feldrändern sowie die Situation des Kranken – in Nahaufnahmen von Blumen – widerspiegeln.

Zuletzt finden wir uns in einer Videoinstallation wieder. Wir haben den Raum durch einen grauen Filzvorhang betreten und stehen in der Mitte einer vierkanaligen Videoinstallation mit je einer Projektionsfläche an jeder Wand. Auf der Bank in der Mitte des Raumes lassen wir uns nieder und betrachten das Geschehen in den Aufnahmen. Wir sehen geschäftige Straßen und Menschen, die über Kreuzungen in Großstädten eilen. Bald finden wir uns in der Rolle eines stehenden Beobachters wieder, dann ertönt hinter uns ein Geräusch: ein Video auf der anderen Leinwand hat sich zugeschaltet. Nun sind wir vielleicht eine Überwachungskamera, zack – das Bild wechselt – und schließlich sind wir ein Flaneur, der die Straßen entlang schlendert. Das pulsierende Treiben auf den Bildern lassen wir auf uns einwirken. Und verlassen so die Ausstellung in Richtung unserer Stadt.

Thomas Struth: Figure Ground

05.05. – 17.09.17
Haus der Kunst
Prinzregentenstraße 1
80538 München

Tagesticket 
14 €, ermäßigt 12 €

Kunst im Kontext

KUNST IM KONTEXT war bis Ende des Sommersemesters 2019 eine Kooperation mit dem Department Kunstwissenschaften der LMU. Studierende der fünf Studiengänge Theaterwissenschaften, Kunstgeschichte, Kunstpädagogik, Musikwissenschaften und Musikpädagogik rezensierten Ausstellungen, Konzerte und Theaterinszenierungen, berichteten über berufliche Perspektiven nach dem Studium und schrieben über alles, was sonst noch so los ist an der Isar. Die Texte entstanden im Rahmen von Seminaren des Departments und in einem freien Redaktionsteam.

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