Kulturphilter Online

„Wie laut soll ich denn noch schreien?“

Jürgen Dehmers´ traumatische Erlebnisse an der Odenwaldschule

 

Im Rahmen der diesjährigen Münchner Bücherschau stellt ein Missbrauchsopfer der Odenwaldschule ein autobiographisches Werk über seine Erfahrungen an der, spätestens seit 2010 allgemein bekannten hessischen Bildungsstätte vor.

Jürgen Dehmers
© Rowohlt

Jürgen Dehmers ist kein Medienprofi. Der Trubel um den ihm erst kürzlich verliehenen Geschwister-Scholl-Preises hat ihn mitgenommen. Erwartet hätte er solch eine enorme öffentliche Aufmerksamkeit nicht. Niemals. Heute arbeitet Dehmers, mit eigentlichem Namen Andreas Huckele, selbst als Lehrer und weiß noch nicht, wie Schüler und Kollegen auf die Enthüllung seines Pseudonyms reagieren werden. Bei der heutigen Vorstellung seines Berichts über die jahrelang erfahrene sexualisierte Gewalt während seiner Schulzeit und dessen vielschichtigen Folgen ist er nicht alleine, sondern hat einen ihm schon lange bekannten Journalisten zur Unterstützung mit auf der Bühne. Zu Beginn des Abends wird er sich kurz Hilfe suchend an ihn wenden, damit dieser von der Begrüßung zu den ersten Leseproben überleitet, die restliche Zeit beantwortet er mutig und mit klarer Stimme Fragen aus dem Publikum und erzählt, was es für ihn bedeutet hat, dieses Buch überhaupt zu schreiben.

Andreas Huckele berichtet, er habe den Text einfach wie an einem Faden heruntergeschrieben und damit auch seine Gedanken geklärt. Fast wie in einem meditativen Prozess sei er in seinem Inneren an alte Orte gegangen und habe seelische Erleichterung im Schreiben gefunden. „Wenn ich mir heute die Aufzeichnungen ansehe, merke ich genau, dass, je toxischer die Orte waren, die ich da erneut betrat, desto mehr Schreibfehler sich an diesen Stellen finden lassen.“ Schon früh hat sich der Wunsch zu Schreiben bei Huckele eigenständig entwickelt. Als er mit einem ehemaligen Mitschüler Ende der 1990er Jahre das erste Mal versucht, mit ihrer Geschichte an die  Öffentlichkeit zu gehen, reagiert einzig die Frankfurter Rundschau mit einem Zeitungsartikel über Dehmers Geschichte. Die beiden Freunde haben „das Gefühl, niemand interessiert sich“ und sind fassungslos über diese Ignoranz. Andererseits waren sie es ja leider gewohnt, bei ihren Mitmenschen auf taube Ohren zu stoßen. An dieser Stelle betont der Autor, dass sich nach eigener Schätzung bis heute eher jüngere Journalisten seiner Geschichte annähmen, die meisten Älteren und Etablierten unter ihnen hätten von Anfang an wenig bis gar kein Interesse gezeigt.

 

„Ich muss das jetzt mal aufschreiben sonst platzt mir der Kopf“

 

Der Autor erzählt, es habe die Idee gegeben, einen Open-Source-Text im Internet zu veröffentlichen, der für jeden kommentierbar gewesen wäre; Rechtsanwälte hätten ihm jedoch stark davon abgeraten. Den Grund für diesen Rat erfährt man leider nicht und bevor ich mich melden kann um nachzufragen, ist die Veranstaltung vorbei und der Autor wird in den wohlverdienten Feierabend entlassen. Dafür kommen aber andere zu Wort: Ein Mann im Publikum bekennt sich dazu, selbst einmal einen sexuellen Missbrauch aufgedeckt zu haben, sagt, er sei auf Polizei und Ärzte zugegangen und zunächst selbst als Täter verdächtigt worden. Glücklicherweise habe sich dieser Vorwurf nicht bestätigt und er, als Dank für seine laute und anklagende Stimme, am Ende Recht bekommen. Dieser Mann stellt Huckele auch die Frage, ob es ihm wichtig gewesen sei, durch die Veröffentlichung des Buches einen „Tabubruch“ zu begehen. Huckele aber beschreibt seine damalige Verfassung mit einem zornigen „Tunnelblick“, sagt „Ich war richtig sauer – wir wollten an die Öffentlichkeit!“. Verständlich, immerhin wurde in seiner Jugend über Jahre hinweg  dieses „Tabu“ der sexualisierten Gewalt am eigenen Körper durchgeführt. Das Bedürfnis an die Öffentlichkeit zu gehen hat eine lange Zeit in Andreas Huckele geschlummert, am Ende gab er nicht auf, obwohl sich eine gefühlte Ewigkeit niemand für seine Geschichte interessierte. Zu seinem Schreibprozess und der Versprachlichung seiner Erlebnisse, die nach langer Ignoranz nun auf größeres öffentliches Interesse stoßen, äußert er sich weiter: „Ich bin kein Held. Ich bin einfach nur ein Beispiel, wie man mit so einer Geschichte umgehen kann.“ Alleine ist er mit seinen schlimmen Erfahrungen leider wahrlich nicht. Es ist noch gar nicht so lange her, dass man Tag für Tag über Missbrauchsvorwürfe gegenüber zahlreichen Mitarbeitern der katholischen Kirche lesen konnte. Ungefähr zu dieser Zeit war es auch, als Andreas Huckele endlich von einer breiten Öffentlichkeit gehört wurde.

 

„Ich war richtig sauer – wir wollten an die Öffentlichkeit!“

 

Interessant ist, welche Stellen sich der Autor als Leseproben für die Veranstaltung ausgesucht hat. Einmal wird der, auch auf der Homepage des Rohwolt Verlags zu lesende Prolog,  in gekürzter Fassung vorgetragen, die andere Stelle beschreibt nicht etwa ein grausiges Erlebnis oder eine direkte Episode mit einem Pädagogen, sondern eine freiwillige sexuelle Erfahrung mit einer jungen Frau, die sich eines Nachts auf Andreas´ Zimmer geschlichen hat. Einfühlsam, gar liebevoll schüchtern beschreibt der Autor hier, wie wohl es ihm getan hat, als 18-Jähriger Zärtlichkeiten mit dem Mädchen auszutauschen und am Ende in der Löffelchenstellung einzuschlafen. Leider sollen seine „unbeschwerte Jugend“ durch unerträgliche sexuelle Übergriffe getrübt und sich schlimme Erlebnisse mit sogenannten „Reformpädagogen“ in das Hirn des jungen Mannes einbrennen wie Feuer. Das, was für jeden jungen Menschen eigentlich „das Schönste auf der ganzen Welt“ sein sollte, wird schon sehr früh mit einem dunklen Schatten behängt werden und nur wenige von Anfang an zuhören wollen. Rückgängig machen kann man die Vorfälle nicht. Man kann dem Mann seine Jugend nicht zurückgeben. Auch den vielen anderen nicht. Es meldet sich ein ehemaliger Schüler der Ettalschule, auf welcher 2010 ebenfalls Fälle von körperlicher und seelischer Misshandlung aufgedeckt wurden, zu Wort. Bei der Ettalschule handelt es sich um die Institution eines Klosters, die Erzieher sind Geistliche. Es kommt zur Sprache, dass die Odenwaldschule dennoch den Ruf genoss, eine aufgeklärte und sogar linke Schule zu sein, wenn auch mit schon auf den ersten Blick etwas seltsam anmutenden Eigenheiten. Bis heute gehört es zum festen Konzept der Schule, dass die Schüler mit den Pädagogen zusammenwohnen. Auf der Veranstaltung wird diese Tatsache als „vollkommene Entgrenzung zwischen Erwachsenen und Kindern“ betitelt und mehr als kritisch gesehen; der Autor selbst spricht sich klar für eine baldige und endgültige Schließung der Odenwaldschule aus. Ein ehemaliger Schüler aus Odenwald ruft aus dem Publikum: „Auf einer Eliteschule war ich sicher nicht!“

 

„Warum haben Sie nicht mit Ihrer Mutter über das Alles gesprochen?“

 

Eine Frau aus der letzten Reihe stellt mit brüchiger Stimme die Frage nach den Eltern: „Warum haben sie denn eigentlich nicht mit Ihrer Mutter über das Alles gesprochen? Das verstehe ich nicht.“ Andreas Huckele antwortet, dass es ein Irrglaube sei, Kinder seien in der Lage, alles zu erzählen und legt ihr für genauere Auskünfte schlicht die Lektüre ans Herz. Diesen beschwerlichen medialen Weg beschreitet er auch nicht aus purem Vergnügen, sondern tut dies „zur Anklage der Verantwortlichen, da durch das deutsche Rechtssystem wegen unzureichender Verjährungsfristen keine juristische Gerechtigkeit mehr geschaffen werden kann.“

Gerne würde man davon ausgehen, dass auf dem deutschen Buchmarkt dieses Thema betreffend wieder Ruhe einkehre. Doch allein die Veröffentlichung Bruder, was hast du getan? (2011) von Rainer Stadler und Bastian Obermayer über die Schule vom Kloster Ettal zeigt, dass „das Alles“ kein Ende zu nehmen scheint.

 

Nähere Informationen zu Jürgen Dehmers unter www.geschwister-scholl-preis.de.

 

Nur eine Waffe taugt
„Nur eine Waffe taugt“ © Wikicommonsuser: Triktrak

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