Kommentar

Und täglich grüßt die Effizienz

Produktiver, besser und schneller soll der Alltag sein! Zumindest wenn es nach den „Day in my Life“-Videos geht, die derzeit Social Media überfluten. Ist das schon normal?

Von Maxim Nägele; Foto: Bruce Mars via Unsplash

Wenn man sich unterwegs in die Winterjacke einwickelt und den Schal noch enger zieht als es früher die Eltern getan haben, um sich durch Kälte und Nässe zu kämpfen, sieht man eigentlich immer einen Jogger. Egal zu welcher Uhr-, Tages- oder Jahreszeit, es gibt sie immer, die eisernen Sportler*innen, denen man erst verwirrt und dann beneidend hinterherschaut. Resigniert schleppt man sich dann zurück in die Wohnung und hofft, dort nicht mehr von Menschen überholt zu werden, die alles besser im Griff zu haben scheinen als man selbst. Auf der weichen Couch geht der Griff fast automatisch zum Handy, nur für eine kleine Auszeit auf Instagram oder TikTok natürlich. Doch plötzlich kommen einem da Bilder entgegen, die sich genauso schlecht anfühlen, wie der beschämende Blickkontakt mit dem übermotivierten Läufer: „Daily Routine“ Videos.

Nora Normalaufsteher denkt weder an ein Lächeln noch eine glatte Bettdecke 

Es beginnt meistens mit einer übertriebenen Streckung im Bett, die Haare filmreif zerzaust und einem Lächeln auf dem Gesicht, als würde man normalerweise nicht dreißigmal wütend auf „Snooze“ drücken. Als erste von vielen guten Taten macht die Vloggerin selbstverständlich das Bett frisch. Die meisten Videos über die tägliche Routine beginnen zwischen 05:30 und 06:30; einer Uhrzeit, zu der Nora Normalaufsteher weder an ein Lächeln noch an eine glatte Bettdecke denken würde. Doch es geht direkt weiter im Ablauf, denn noch vor dem Frühstück und dem Kaffee wird wahlweise meditiert, ein kleines „Work Out“ gemacht oder aufgeräumt. Erst dann gibt es die wohlverdiente erste Mahlzeit aus Porridge, Früchten oder Jogurt. Am besten „low carb“ und viel Protein, denn anders als bei der Tagesroutine ist hier weniger immer mehr. Aus der geräumigen Einbauküche geht es dann heiter ins Bad für eine simple „Skin- und Haircare“ Behandlung in circa zwölf Schritten. Völlig ausgeruht, gesättigt und erfrischt geht die Protagonistin dann an die eigentliche Arbeit. Am eigenen Schreibtisch, im modernen Coworking Space oder in einem überteuerten Café mit Matcha Latte tippt sie hochkonzentriert in ihrem MacBook. Was da genau gearbeitet wird, bleibt den Zuschauer*innen meist verwehrt, aber es ist sicher höchst relevant. Viel interessanter ist die Mittagspause, diesmal mit etwas mehr auf dem Teller, aber trotzdem unbedingt kalorienarm und proteinreich. Entspannt wird dann nach der Arbeit, nicht etwa auf der Couch, sondern auf der Yogamatte oder Hantelbank im Fitnessstudio. Darauf ist der kasteiende Ernährungsplan schließlich programmiert, für die „gains“. Erst nach dem Training war man so richtig produktiv, isst dann zuhause ein ästhetisches Abendessen und widmet sich zuletzt dem heiligen Gral der Routine-Vlogger, dem „Journaling“. In das pastellfarbene Tagebuch reflektiert man fleißig über den produktiven Tag und die noch ausstehenden Ziele, die unzähligen „life goals“. Erschöpft aber noch immer mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen legt sich die Influencerin schließlich in das gemachte Bett und träumt von einem noch effizienteren Morgen.

„Daily Routine“ Videos auf Instagram

Zuschauer werden auch unbewusst von dieser Trend-Welle mitgezogen 

So oder so ähnlich sind sie alle, die unzähligen Videos der Influencer auf TikTok oder Instagram über ihren persönlichen „Day in my Life“. Der voyeuristische Stil dieser kurzen Clips ist inspiriert von den ersten Video-Bloggern auf Youtube, die das Teilen privatester Inhalte für ein digitales Millionenpublikum populär machten. Mit dem schnellen Videoformat von TikTok und der deckungsgleichen Reel-Funktion von Instagram kann sich nun eine neue Generation an Content-Creators diesen Video-Blogs annehmen. Die regelrechte Flut an Routine-Content, zu dem auch die Welle der „What I Eat In a Day“ Videos gehört, normalisiert die Idee, dass ein erfolgreicher Tag nur mit Produktivität und Effizienz erreicht werden kann. Eine richtige Routine bedeutet mehr zu arbeiten, weniger zu essen und keine Zeit zu „verschwenden“. Mit ihren verknappten Routinen stellen sie sich und ihre täglichen Erfolge dar, doch das eigentliche Ziel dieser Clips ist: die Zuschauer zum Mit- und Nachmachen zu bewegen. Einige Videos werden ausdrücklich mit „#relatable“ oder „#inspiration“ betitelt, doch auch unbewusst können die Zuschauer von dieser Trend-Welle mitgezogen werden. Der Soziologe Jürgen Rinderspacher skizziert für brand eins, wie sehr sich eine effiziente Lebensanschauung mittlerweile auf das Privatleben der Gesellschaft auswirkt: „Jede Minute ist kostbar und soll einen irgendwie gearteten Nutzen beziehungsweise einen bewusst arrangierten Genuss bringen; einfach aus dem Fenster auf die Straße zu schauen gilt nun (…) als eine gesellschaftlich gering geachtete Tätigkeit“.

Das unermüdliche Beschäftigtsein ist „immaterielle Währung“ 

Routine-Videos reproduzieren diesen Alltagszwang in einer Art toxischen „mindfulness“, bei der jede Minute des Tages aktiv gestaltet und wahrgenommen werden muss. Doch ein Tagebucheintrag verliert an jeglicher kreativen und reflexiven Bedeutung, wenn er nur als zwanghafter Tagespunkt abgehakt wird. Yoga, Meditation und Spaziergänge im Minutentakt sind keine gelebte Freizeit, sondern ein Mittel zum Zweck, um den eigentlichen Job erträglicher zu machen. „Immaterielle Währung“ nennt die Autorin Teresa Bücker dieses unermüdliche Beschäftigtsein in einer Work-Life-Routine, die viel mehr ist als ein schmusiger Insta-Trend. Das Milliardengeschäft Rastlosigkeit der digitalen Generationen finanziert eine neoliberale Arbeits- und Freizeitwelt, deren eigentliche Bedrohung durch die audiovisuelle Ästhetik der „Daily Routines“ verschleiert wird. Statt sich dem schrumpfenden Zeitfenster selbstbestimmter Wochenstunden bewusst zu werden, erstellt man heute die nächste ToDo-Liste für morgen.

Vielleicht wäre ein erster Schritt aus den effizienzgetriebenen Endlosschleifen der Videos das „My“ in „Day in my Life“ groß zu schreiben. Denn der gevloggte Alltag anderer Influencer*innen ist kein Spiegelbild, keine Inspirationsquelle und keine Lebensvorlage. Produktiv ist ein Tag schon, wenn er gelebt ist. Punkt. Wenn ich faul auf der Couch liege und mich durch solche Videos noch fauler fühle, dann fehlt mir auch eine wichtige Selbstreflexion. Denn jeder Mensch hat einen individuellen Alltag und feiert selbstdefinierte Erfolge. Während sich mein Blick mit dem des Joggers kreuzt, dann übersehe ich in meiner bodenlosen Scham, dass er vielleicht gerade noch neidischer auf meine gemütliche Jacke schaut oder sogar mit mir tauschen wollen würde. Selbst im übelsten Schneesturm können wir alle zu unverfrorenen Jogger*innen werden, solange wir den eigenen Weg nicht aus den Augen verlieren.

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