Über die Uraufführung des Abenteuerromans Ruf der Wildnis an den Münchner Kammerspielen.
Der Regisseur Alvis Hermanis schickt den Zuschauer auf eine knapp zweistündige Reise zwischen Goldrausch, tierischer Wildheit, tristen Persönlichkeiten und bewegendem zeitgenössischen Theater.
Der Vorhang hebt sich, die Bühne ist bedeckt mit diversen Teppichen, darauf sechs Couchen mit jeweils zum Couchdesign kostümierten Menschen und dazu jeweils einen passenden Hund. Das Stück beginnt schleppend. Die Darsteller erzählen nacheinander ihre Geschichten und von dem Verhältnis zu ihren Hunden. An dieser Stelle fragt man sich, was das alles mit Jack Londons Roman Ruf der Wildnis zu tun hat. Der Roman handelt von einem domestizierten Hund, der in der rauen Natur Alaskas zum wilden Wolf mutiert. Am heutigen Abend fühlt man sich eher an bizarre Szenen aus dem Oeuvre des österreichischen Filmregisseurs Ulrich Seidls erinnert.
Aber als dann Thomas Schmauser das neue Ensemblemitglied Benny Claessens auf allen Vieren an einer Hundeleine brutal über die Bühne zerrt, wird langsam klarer, was hier gespielt wird: Die Szene entstammt dem Roman Londons, der Hund gespielt von einem Menschen.
Das zuvor heiter ausgelassene Premierenpublikum wird plötzlich still. Es beeindruckt, diese Demütigung des zum Tier herabgewürdigten Menschen zu verfolgen, auch dank der überzeugenden Leistung von Claessens. Immer wieder schlüpfen die Schauspieler in die Rolle der Hunde aus Londons Roman. Die echten Hunde verabschieden sich schon nach der ersten Viertelstunde von der Bühne und treten danach nur noch sporadisch in Erscheinung.
Für Heiterkeit sorgt besonders der grandios spielende Thomas Schmauser, die Rolle des zynischen Bosniers, der sich nur um seinen Hund kümmert, weil er seiner Frau gehört. Der aber ganz und gar nicht verstehen will, wozu so ein Hund eigentlich gut sein soll, lässt fast keinen Zuschauer ruhig auf seinem Platz sitzen. Auch der Rest des Ensembles und die Inszenierung werden vom Publikum wohlwollend aufgenommen: häufiger Zwischenapplaus und kräftiger Schlussapplaus, in dem die wenigen Buhrufe untergehen.
Warum bringt man eigentlich einen Roman auf die Theaterbühne? Die Antwort an diesem Abend lautet: Es verschafft dem Team um den Letten Alvis Hermanis die Freiheit, nicht „nur“ den Text des Stückes zu inszenieren, sondern etwas Zeitgenössisches zu kreieren. Der Text als Ein Baustein des Theaterkunstwerkes.
Der neue Intendant Johan Simons will das bisherige Konzept der Münchner Kammerspiele weiter verfolgen. Das zeigt bereits der Eröffnungsabend im „Schauspielhaus“ am Vorabend. Es wurde ein Konzert moderner klassischer Musik gespielt. Simons spricht ein Publikum an, das nicht ins Theater geht, um seine Abendgarderobe vorzuführen, sondern ein Publikum, das sich auf eine stellenweise unkonventionelle Auseinandersetzung mit einem Thema einlassen möchte.
Um was es an diesem Abend geht, beschreibt Hermanis auf der Homepage der Münchner Kammerspiele: „Es ist natürlich sehr schmeichelhaft zu glauben, dass wir menschlichen Wesen sehr kultivierte und kulturell gebildete Kreaturen sind. Aber wenn man sich der Realität stellt, so sind wir in erster Linie Tiere.“
Ältere Damen im schicken Abendkleid wird man wohl vorerst noch seltener antreffen als bisher. Beim Herausgehen höre ich eine von ihnen sagen: „Das Netteste waren immer noch die Hunde“.
Das sehe ich anders.