Unileben

Digitale Welten – Ein Interview mit Dr. Markus Wesche

Dr. Markus Wesche, von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, über das Repertorium Fontium, Digitalisierungstrends und die Vorteile für Forscher und Studierende der Geisteswissenschaften.

 

Im Vorfeld zu einem Artikel zum Thema „Digitalisierungstrend in den Geisteswissenschaften“, der im Uniprophil der kommenden Semesterausgabe von Philtrat (Verkauf: 4.-11. Juli) erscheinen wird, hier schon einmal vorab ein Interview mit Dr. Markus Wesche über das Repetorium Fontium und Digitalisierung ganz allgemein.

 

Was ist eigentlich das Repertorium Fontium?

Das Repertorium Fontium ist ein umfassendes Verzeichnis mittelalterlicher Geschichtsquellen und zugleich eine Bibliographie, in der die Quellen unter einem bestimmten Titel oder unter dem Autor aufzufinden sind. Hier findet man Textausgaben, Übersetzungen, Forschungsliteratur. Das Repertorium, das wir in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften bearbeiten, umfasst den Zeitraum 750 bis etwa 1520 n. Chr. – dem Ende des mittelalterlichen Kaisertums unter Maximilian I. Das Problem bei mittelalterlichen Quellen ist, dass es selten authentische Titel gibt. Deshalb muss man für ein Repertorium verschiedene Zugangswege öffnen, um zu den Werken zu kommen – wenn man nicht exakt weiß, was man sucht.

 

Wie ist das Projekt entstanden? Und was haben Sie in den letzten Jahren genau gemacht?

Das Projekt ist eigentlich schon uralt. Es geht auf ein Druckwerk des 19. Jahrhunderts zurück, zuerst erschienen 1862. Damals hat der Berliner Bibliothekar August Potthast alle Quellenwerke und Corpora bibliographiert und in ein großes Buch gepackt. Dieses Verzeichnis war damals revolutionär für die mittelalterliche Quellenforschung, weil man in einem einzigen Katalog nachschlagen konnte, wo ein mittelalterliches Werk ediert war.

 

Aus alt mach neu: Die Digitalisierung in den Geisteswissenschaften erfasst Band um Band… © Wikicommons: User Tom Murphy VII

In den 1950er Jahren hat man sich dann daran gemacht das Werk völlig zu überarbeiten, als nach dem Zweiten Weltkrieg die europäische Mediävistik wieder versuchte Fuß zu fassen und Verbindungen über die Ländergrenzen zu schaffen. Damals hat man in Rom ein völlig neues Werk konzipiert, das Repertorium Fontium Historiae Medii Aevi (Verzeichnis der Geschichtsquellen des Mittelalters, anm. d. Red.), das zwischen 1950 und 2007 in 11 Bänden gedruckt worden ist.

Aus vielen Gründen haben wir nun vor etwa 12 Jahren beschlossen, das Werk in eigener Regie zu digitalisieren und den deutschen Quellenanteil, der beträchtlich ist – etwa 16% des Ganzen – auf einer Internetplattform dem Publikum zu servieren. Der Vorteil der Digitalisierung ist, dass wir die Daten laufend aktualisieren können und der Nutzer so den aktuellen Stand auf der Webseite abrufen kann. Wir haben zunächst pdf’s verwendet, haben dann jedoch mit Hilfe von Projektgeldern der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) dieses Repertorium binnen zweier Jahren digitalisiert und mit einer Suchmaschine durchsuchbar gemacht. Es gibt sowohl Listen, als auch komplexe Suchmöglichkeiten, wo man mit Filtern die Suche auf wenige Ergebnisse einschränken kann. Außerdem haben wir durch Sachindices und Schlagwörter das Repertorium auch inhaltlich besser erschlossen.

 

Welche Vorteile bringt das Digitale Repertorium für Forscher und Studenten der Geschichtswissenschaft?

Das neue digitale Repertorium bietet natürlich unendlich viele Möglichkeiten und Vorteile gegenüber dem gedruckten Werk: Zum einen ist es aktueller als das gedruckte Buch, zum anderen haben wir sehr viele Fehler verbessert, die wir aus der Druckfassung übernommen hatten; dann sind die Daten strukturiert, es gibt Register- und Suchfunktionen, die allein schon unschätzbar sind. Und: Das neue Werk ist ganz auf deutsch. Im alten Repertorium sind die Quellen- und Autorenbeschreibungen nämlich auf Latein abgefasst, weil man damals noch davon ausging, dass alle Gelehrten Latein wie ihre Muttersprache verstünden. Wir versuchen nun das Werk für alle Studenten zugänglich zu machen, wir wollen ein Informationsmedium schaffen, das jeder ohne Sprachbarrieren so leicht wie möglich nutzen kann.

 

Welche Vorteile und Chancen bietet die Digitalisierung generell für die Geisteswissenschaftler?

Das ist nun ein etwas zwiespältiges Kapitel: Wir können ohne die Digitalisierung überhaupt nicht mehr auskommen, aber für die Geisteswissenschaftler besteht natürlich ein gewisses Ungleichgewicht. Denn eigentlich steckt die ganze Weisheit immer noch in Büchern und nicht im Netz. Man kann sich zwar über Wikipedia wunderbar Auskünfte holen und sich schnell über einen Gegenstand informieren – besonders über moderne – aber letzten Endes braucht der Geisteswissenschaftler immer noch das gedruckte Buch, das nicht zu ersetzen ist. Jeder sieht das, wenn er längere Texte studieren muss.

Dennoch: Für alle Basisinformationen – aus Lexika, Wörterbüchern, Findbüchern, Überblickswerken – ist die Digitalisierung heute einfach nicht mehr wegzudenken; sie bietet die beste Möglichkeit, sich kurz und knapp über einen Gegenstand zu informieren. Deshalb sollten alle Werke dieser Art auf Dauer digitalisiert werden. Ein Problem für eine weitgehende Digitalisierung ist jedoch die Urheberrechtsfrage und hier entsteht bisweilen ein Interessenkonflikt mit den klassischen Verlagen, die bis vor zwanzig Jahren ein Monopol für die Wissensverbreitung hatten.

 

So oder so ähnlich kann man sich etwa die Digitalisierung ganzer Buchbände vorstellen. © Wikicommons: User Vadaro

Und beruflich?

Nun, die Digitalisierung hat eigentlich erst angefangen. Das ganze Geschäft wird seit etwa 15 Jahren betrieben und ist durch das Web mächtig vorangetrieben worden. Seitdem werden die wissenschaftlichen Inhalte zunehmend über die großen Bibliotheken digital bereit gestellt – in verschiedenen Formen, mit verschiedenem Engagement und in verschiedenen Schüben. Google hat große Bibliotheken weltweit und auch hier in Deutschland, unter anderem die Bayerische Staatsbibliothek (BSB), dafür gewonnen, die eigenen urheberrechtsfreien Bestände zu digitalisieren und im OpenAccess-Verfahren, d.h. ohne Gebühren, dem Publikum bereitzustellen. Seitdem bietet die Digitalisierung natürlich auch Berufschancen für junge Leute, vor allem dann, wenn sie sich im Bereich der e-humanities, den Anwendungsmöglichkeiten der Elektronik in den Geisteswissenschaften, ausbilden lassen. Das kann ich den Studenten dieser Fächer sehr empfehlen.

 

Wie hat sich Ihr eigenes wissenschaftliches Arbeiten durch die Digitalisierung verändert, etwa im Vergleich zur Zeit ihrer Promotion?

Die Studenten von heute können sich wohl kaum die Zeit der Karteikarten und der Schreibmaschine vorstellen. Zum Schluss musste man von einer Haus- oder Examensarbeit eine saubere Fassung herstellen, und die musste neu getippt werden. Copy und Paste waren Utopie, die Realität war Tippex. Die alten Bibliotheksbestände der BSB waren im Quartkatalog in Hunderten von Kapseln und Hunderttausenden von Karteikarten zu konsultieren, die Bestände vor 1820 in riesigen handgeschriebenen Folianten. Ich fürchte, viele Studenten würden heute schon an der handgeschriebenen Fraktur der Bibliothekare aus grauer Vorzeit scheitern. Die Erleichterungen der Elektronik haben auch die früher geübte Ökonomie akademischer Arbeit aufgehoben: Planvolles Exzerpieren wird seltener, Reflexion wird bisweilen – so der Eindruck – durch digitalen Kopierfleiß ersetzt, und Dissertationen werden immer länger, in der Regel viel zu lang. Denn wer drückt schon gern auf die delete-Taste?

 

Eine kleine Zukunftsprognose? Wie wird sich der Trend weiterentwickeln?

Der Digitalisierungstrend wird sich dahingehend entwickeln, dass immer mehr moderne geisteswissenschaftliche Projekte von vornherein auf eine digitale Fassung angelegt werden, die parallel zum Buch läuft. Das ist besonders bei den Wissenschaftsakademien der Fall, wo man Langzeitprojekte über anderthalb bis zwei Jahrzehnte durchführt. Dort wird von nun an alles gleich in einer digitalen „Ur“-Fassung erarbeitet. Vorerst geht es einmal darum, die bisher digitalisierten Inhalte zu strukturieren und in Metastrukturen leichter zugänglich zu machen. Das, was zur Zeit betrieben wird – auch europaweit – ist, verschiedene fachspezifische Ressourcen miteinander zu verbinden. Man weiß natürlich nicht, wie sich neue Formate und Strukturen in den nächsten zwanzig Jahren entwickeln werden. Man kann nur davon ausgehen, dass zur Wiedergabe von Inhalten für die nächsten Jahrzehnte international offene Standards benutzt werden, z.B. die Codierung in Extensible Markup Language und den verwandten Codiersprachen sowie in der Text Encoding Initiative, die von Forscherkonsortien und nicht von kommerziellen Firmen erarbeitet wird. Welche Strukturen darüber „gebaut“ werden und wie die einzelnen Ressourcen miteinander verbunden werden, das muß jeweils pragmatisch erfolgen.

Vielen Dank für das Gespräch Herr Dr. Wesche.

Das digitalisierte Repertorium Fontium, an dem Dr. Martin Wesche beteiligt war, finden Interessierte hier.

Die Bayerische Akademie der Wissenschaften schreibt einführend zu dem Projekt:

„Die Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters bringen den deutschen Anteil des Repertorium fontium historiae Medii Aevi auf den neuesten Stand. Der Zeitraum der bearbeiteten Quellen erstreckt sich von der Epoche Karls des Großen bis um 1500. Der geographische Raum ist das deutsche Reich des Mittelalters.“ Zur Seite der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

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