Kulturphilter

Der Blick über Betonitsäulen

Eine Aktion vor der Pinakothek der Moderne

Bald krachen, blitzen und zischen zum Jahreswechsel wieder die Silvesterraketen. Niko Abramidis alias Emsor Escapo (23), Student an der Münchner Kunstakademie, bestieg eine Rakete der anderen Art: Eigentlich textet und malt der junge Künstler, um den Menschen ihre Zeitumstände bewusster zu machen, manchmal tritt er dafür jedoch auch in Aktion.


Schwer schiebt sich die silberne Rakete über die Wiese vor der Pinakothek der Moderne. Es ist Sonntagmittag, der Besucherstrom hält sich in Grenzen. Dennoch hat sich bald eine kleine Menschentraube angesammelt und bestaunt das seltsame Gefährt, geschoben von einem jungen Mann mit Mütze und gelber Pilotenbrille. Neuropa nennt sich die Mission, in der er neuerdings unterwegs ist.

Niko, Neuropa, was ist das?

Neuropa ist das, was uns umgibt, das ist die Welt, in der wir gerade leben. Das Kunstwort bezeichnet auch das neue Europa, das es eigentlich schon lange gibt: Aber irgendwie merken wir gar nicht, was darin gerade passiert, in was für einer Zeit wir leben, in was für einer brisanten Zeit, wo so viel passiert, jeden Tag aufs Neue. Aber: was passiert wirklich und was scheint nur so? Was ist nur der Glorienschein der Ereignisse und was passiert dahinter?

Das heißt, das Neu in Neuropa ist gar keine Aufforderung an uns, sondern die Beschreibung eines Status quo?

Es ist beides, es bezeichnet natürlich auch die ständige Erneuerung, die uns umgibt. Ich spiele mit dem Wort: Dass uns das Neue bereits umgibt, wir es aber jeden Tag neu finden müssen, wir uns selber neu erfinden müssen. Deshalb habe ich auch diese Rakete gebaut. Das ist eine Erfindung, mit der ich abheben möchte. Und zwar weg von dieser Geschichte, in der es jeden Tag so scheint als würde etwas passieren und dann passiert doch nichts. Und in der man überhaupt nicht mehr weiß, wofür man sich entscheiden soll in seinem Denken, weil man gar nicht mehr wahre Ereignisse vom Schein unterscheiden kann.

Auf deiner Rakete steht „up up up“, ein Warnhütchen ist die Spitze: Was wolltest du damit zum Ausdruck bringen?

Dass in dieser Welt ganz viele Grafiken und Graphen versteckt sind, wo Menschen dahinter sitzen und die ganze Zeit ausrechnen, ob es sich auch lohnt, diese und keine andere Entscheidung zu fällen. Und alles muss immer wachsen und nach oben gehen. Die Rakete will auch nach oben fliegen. Das ständige „Hinauf“ ist aber eine ambivalente Sache. Ich spiele mit dieser Ambivalenz: Natürlich, eine Rakete fliegt nach oben, aber ist es auch gut? Soll ich damit abheben? Mit dieser Rakete hier würde ich nicht wirklich fliegen wollen. Es ist gefährlich, damit zu fliegen. Gleichzeitig war es auch ein Schöpfungsakt, diese Rakete zu bauen. Und damit eine Grundenergie, die ich eingebracht habe, hier in den öffentlichen Raum. Sozusagen die Fluchtenergie, um aus dieser Geschichte zu entfliehen.

Fliehen? Es sah aus als wärst du auf der Suche. Nach was denn?

Ich habe mich auf die Suche nach dem letzten Individuum begeben. Das Individuum ist natürlich auch ein ambivalentes Wort. In der Zeit, in der so viele Menschen auf der Erden leben und ständig gefragt wird: Individuelles Verhalten, was ist das eigentlich? Oder: Ist es überhaupt sinnvoll, sich individuell zu verhalten?

Damit will ich nicht sagen, dass die Menschen aufhören sollten, sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Und aufhören sollten, das zu tun, was sie für richtig halten. Überlegt. Deshalb, finde ich, begebe ich mich nicht nur auf die Suche nach dem Individuum, sondern auch auf die Suche nach gesundem Menschenverstand. Und gesundem Handeln.

Das erinnert an Diogenes. Der ist am helllichten Tag mit einer brennenden Laterne über den Marktplatz gelaufen und hat gerufen: Ich suche Menschen.

Es gibt bei mir natürlich auch sehr viele Parallelen zur Philosophie, besonders zu Jean Baudrillard, der die Idee der stehengebliebenen Geschichte und der beschleunigten Zeit hat. Also diese Ambivalenz von Beschleunigung und gleichzeitig unglaublich träger Masse, die alles in sich aufsaugt. Mit dem Ergebnis, dass man als einzelner Mensch in diesem Wirrwarr von Ereignissen gar keine Möglichkeit mehr hat, zu urteilen.

Wenn du in diesem kleinen Raum in der Rakete sitzt, was geht dir da durch den Kopf?

Ja, da ist natürlich die Ablaufskette, die ich mir ausgedacht habe, die ich ja machen muss. Ich habe den Raum auch so gebaut, dass es ein ganz enger, beklemmender Raum ist, die Spitze einer Rakete eigentlich. Eine echte Rakete ist ja viel größer. Dass man da auch irgendwie eingezwängt ist, als Individuum. Es ist ein klaustrophobischer Raum. Das zeigt auch die Form der Rakete: sie ist nicht unbedingt ein besonders schönes Objekt. Sie soll auch irgendwo anstoßen an der bestehenden Ästhetik.

Vor allem lasse ich aber meinen Gedanken freien Lauf; stelle mir vor, wie es wirklich wäre, damit abzuheben, auf dem Dach der Pinakothek zu landen, das wäre nicht schlecht. Oder zumindest ein bisschen abzuheben und von oben runterzugucken. Vielleicht mache ich das ja in Zukunft, mit der nächsten Rakete. Das ist ja auch die Idee meiner Sache, dass man nie aufhören sollte, seinen individuelle Welt zu bauen und zu versuchen, danach zu handeln, auch wenn sie nicht zum Tragen kommt, wenn sie nicht auf Anhieb funktioniert. Diese Rakete hat nicht auf Anhieb funktioniert und ist weggeflogen, aber trotzdem werde ich weiter Versuche unternehmen. Das kann man auch exemplarisch sehen für das individuelle Handeln. Man sollte es nicht aufgeben, nur weil es schwierig ist, oder seinen eigenen Geist zu leben, oder auch zu denken. Das ist auch schon schwierig genug. Vor allem macht es unglaublich viel Spaß, so etwas zu machen, und das beschränkt sich nicht darauf, so eine Skulptur zu bauen.

Zeigst du des Öfteren solche Aktionen?

Nein. Ich schreibe mehr Texte oder erfinde Bilderwelten, weil ich es sehr wichtig finde, dass das, was ich mache, auch einen Kontext hat, in den ich es einbinde. Mir geht es auch sehr um die Texte und darum, ein bisschen tiefgründigere Dinge anzusprechen, in Bildern und Texten. Dazu kommt, dass so eine Aktion nicht so einfach geht. Da kommt es in erster Linie darauf an, dass sie wirkungsvoll ist, und nicht darauf, eine möglichst sensible Vorstellung zu geben.

Hat die Pinakothek Bescheid gewusst, dass du hier her kommst und ihr die Schau stiehlst?

Nein. Man muss den öffentlichen Raum auch besetzen können. Wir neigen heute in unserer Zeit dazu, öffentliche Räume zu Durchgangsräumen zu machen und sie sozusagen mit dem Nichts zu besetzten. Wie in einer Art Durchfluss. Wo man gar nicht stehenbleiben kann, wo man sich gleich unwohl fühlt, wenn man kurz anhält. Das ist auch, ja, eine Idee: Dass der öffentliche Raum auch ein Raum für das Individuum ist.

(Fotos: Anna Sophia Hofmeister)

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