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Aus dem Reich der Schatten

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Foto: Bernhard Schmidt (Filmfest München)

Das Filmfest ist ein Ereignis. München, die Stadt, die gemeinhin das Bild einer Schickeria – wie es Jelinek vor einiger Zeit in den Kammerspielen inszeniert hatte – vermuten lässt, wird für kurze Zeit wieder einmal das, was sie in den 70ern für Fassbinder war – eine Filmstadt.

Nun hat der Kinofilm eine besondere Fähigkeit. Egal, welches Blitzgewitter, Reporter und Andere, die vermeintlichen Heroen des Films vor den Kinoeingängen verfolgen, im Kino sitzen alle gleich. Das Licht geht aus und jeder ist für eine bestimmte Zeit (in der Regel sind das ja 90Minuten, in jüngster Zeit durchaus ein paar mehr Minuten) das, was üblicherweise alle in diesem Saal sind – ein Zuschauer.

Zwar kann man schon mal etwas nervös werden, wenn man weiß, dass in der letzten Reihe der große Wim Wenders sitzt, top und hop mit Jeanshemd und Hosenträgern. Man dreht sich verstohlen um und da lässt das Licht nach, da lässt die Nervosität nach – es ist ja dunkel. Man kann sich also nicht sicher sein, was für (Helden)Gestalten da aus dem Reich der Schatten kommen, aber eines ist gewiss: es geht doch eigentlich um den Film.

Bevor man sich also den Nacken verrenkt kann man sich entspannt und gespannt auf die neuen Filme konzentrieren. Die folgenden Artikel bieten dementsprechend eine Sammlung von Rezensionen zu den diesjährigen Festivalbeiträgen, zu den Filmen – aus der Dunkelheit.

Ein Klick auf die entsprechenden Titel klappt die Rezension aus.

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Liebe lieber französisch: Lisa Azuelos’ Une Rencontre

von Saskia Rohrmann

Paris ist nicht nur die Stadt der Liebe – sie schreibt auch die schönsten Geschichten über die Liebe. Dies könnte einer der Gründe dafür sein, warum die Regisseurin Lisa Azuelos, ihre erfrischende Romanze Une Rencontrein Frankreichs Hauptstadt ansiedelt.

Auf einer Party lernen sich der verheiratete Anwalt und Familienvater Pierre (Francois Cluzet) und die geschiedene Schriftstellerin und alleinerziehende Mutter Elsa (Sophie Marceau) kennen. Die Funken, die trotz der unterschiedlichen Lebenssituationen zwischen den beiden Protagonisten sprühen, springen sofort auf den Zuschauer über. Die Anziehungskraft zwischen Pierre und Elsa ist dabei deutlich spürbar, ohne jemals kitschig oder klischeehaft zu wirken.

Häufig werden Liebesgeschichten ab diesem Punkt vergleichbar inszeniert, woraus eine absehbare Entwicklung der Story resultiert, die nur selten zu überraschen vermag: Boy meets Girl, eine Liebe entsteht und plötzlich auftretende Schwierigkeiten oder Missverständnisse müssen überwundern werden. Nicht so in Lisa Azuelos’ Une Rencontre: Hier brechen ein wunderbar charmanter sowie glaubhafter Cluzet, der sich spätestens mit Olivier Nakaches und Eric Toledanos Intouchables (2011) in die Herzen der deutschen Kinoliebhaber gespielt hat, und eine hinreißende Marceau, die bereits in LOL – Laughing Out Loud (2012) mit Azuelos zusammen arbeitete, immer wieder mit den Regeln konventioneller Kinoromanzen.

Weder Pierre noch Elsa stürzen sich leichthin in das verbotene Liebesabenteuer, was diesen Film letztlich so unterhaltsam macht. Als Zuschauer wartet man trotzdem auf den Beginn einer gemeinsamen Zukunft der frisch Verliebten. Azuelos’ kurzweilige Inszenierung einer mitreißenden Liebesgeschichte wirkt realistisch; gleichzeitig kommt in Une Rencontrejedoch auch der archetypische Romantiker auf seine Kosten.

Un Recontre (R: Lisa Azuelos, F 2014, 82 Min.)

Es ist angerichtet: Jon Favreaus Chef

von Saskia Rohrmann

Carl Casper (Jon Favreau) hat es geschafft: Er ist Chefkoch in einem renommierten Restaurant in L.A. und bekommt die Gelegenheit mit seinem Menü den berühmten Kritiker Ramsey Michel (Oliver Platt) von seinem Können zu überzeugen. Der boshafte Restaurantbesitzer Riva (Dustin Hoffman) funkt dazwischen und verantwortet letztlich, dass Casper nicht das ursprünglich geplante Menü zubereitet, sondern den Kritiker mit weniger originellen Gerichten langweilt. Daraufhin zerreißt Ramsey Caspers Küche in der Luft und plötzlich steht der einstige Chefkoch ohne Job da. Kurzerhand beschließt Casper sich neuen Herausforderungen zu stellen und macht sich selbständig. Fortan tourt er mit seinem Food-Truck „El Jefe“ erfolgreich durch Amerika.

Die 114-minütige Komödie Chef ist eine wahre Delikatesse, die Favreau nebst Dustin Hoffman mit einem fulminanten Staraufgebot garniert. Selbst die betörende Scarlett Johansson in der Rolle von Caspers Freundin Molly, wird von einem urkomischen Robert Downey Jr, der leider nur in einer kleinen Nebenrolle auftritt, in den Schatten gestellt. Modern Family-Serienstar Sofia Vergara komplettiert das Hollywood-Ensemble als Ex-Frau von Casper, die sich stets um die Beziehung zwischen ihrem ehemaligen Mann und dem gemeinsamen Kind Percy (Emjay Anthony) sorgt.

Jon Favreau (Iron Man; Iron Man 2), der zuletzt mit Cowboys & Aliens (2011) einen Blockbuster vorlegte, beweist mit Bravour, dass der allseits bekannte Spruch „Das Auge isst mit“ einen enormen Wahrheitsgehalt in sich trägt, den das visuelle Medium Film hervorragend in Szene setzen kann: Brutzelnde Pfannen und dampfende Töpfe, in Öl geschwenkte, auf dem Teller kunstvoll gedrehte Spaghetti und saftig gebratene Steaks sind nur ein Bruchteil des kulinarischen Spektakels, das Favreau in Chef auf die Leinwand bringt. Mit leerem Magen sollte man diesen Film nicht genießen; das passende Dessert nach dem Abendessen stellt die unterhaltsame und stellenweise berührende Komödie Chef aber auf jeden Fall bereit.

Chef (R: Jon Favreau, USA 2014, 114 Min.)

Chef: Köstlicher Indie-Film von Jon Favreau

von Anna-Maria Babin

Ein Koch, der nicht die Freiheit besitzt, seine Kreativität auszuleben, ist kein wahrer Koch! Von diesem Gefühl geleitet arbeitet der einstige Shootingstar der Restaurant-Szene Carl Casper in einem Restaurant, in dem er jeden Abend auf Wunsch des Besitzers dieselben eintönigen Klassiker kocht: das langweilige Ei mit Kaviar und den ewigen Schokoladen-Lavakuchen. Als sein Standardmenü jedoch daraufhin von einem der bekanntesten Kritiker von Los Angeles zerrissen wird, beschließt er einen Neuanfang unter eigener Regie als Besitzer eines Food-Trucks. Gemeinsam mit seinem Sohn Percy und Souschef Martin reist er durch Kalifornien, um seine kulinarischen Ergüsse an den hungrigen Mann zu bringen.

Regisseur Favreau begnügt sich wie bereits zu Zeiten seines Drehbuchdebuts Swingers (1996) mit einer Independent-Produktion abseits der großen Budgets der Traumfabrik. Die filmische Inszenierung des heimlichen Protagonisten, die köstlichen Gerichte, erscheint dabei um so vieles eleganter als so mancher Special-Effect seiner großen Hollywood-Produktionen (darunter Iron Man I-II, Cowboys and Aliens). Wenn Carl Casper mit Liebe seine Gerichte zaubert, meint man als heimlicher Gast geradezu die verführerischen Düfte atmen zu können. Die gastronomische Professionalität der Charaktere mag davon herrühren, dass Favreau den berühmten Koch Roy Choi, den Begründer des Food-Truck-Phänomens in Amerika, engagierte, um die Crew gastronomisch anzulernen.

Die Geschichte selbst ist zwar stark vorhersehbar, was aber dem Film wenig schadet. Es geht hier nicht um die Erfindung neuer Erzählstrategien, sondern um leichte, köstliche Unterhaltung. Im Mittelpunkt stehen dabei das Essen, die Beziehung zwischen Vater und Sohn sowie die guten und schlechten Seiten der Social Media. Was braucht man mehr? Gastauftritte von Dustin Hoffman, Scarlett Johansson und Robert Downey Jr machen das Menü komplett. Das einzige Manko dieses Film-Genusses: Ein knurrender Magen und ein gähnend leerer Kühlschrank!

Chef (R: Jon Favreau, USA 2014, 114 Min.)

Ein Hoch auf die Skurrilität: Jean Pierre Jeunets Die Karte meiner Träume

von Anna-Maria Babin

„Beware of mediocrity, it’s the fungus of the mind! “ Die Worte seiner Mutter Dr. Clair nimmt sich der zehnjährige T.S. Spivet, ein noch unbekanntes wissenschaftliches Genie, so sehr zu Herzen, dass er kurzfristig beschließt, der Karte seiner Träume zu folgen. Das Leben auf der Ranch seiner Familie, mitten in den Weiten Montanas, scheint für jedes seiner Familienmitglieder einen festen Platz im Lauf der Dinge zu kennen. Während sein Vater sein Dasein damit verbringt, den letzten waschechten Cowboy zu mimen, versucht sich seine Mutter darin, die Existenz einer wahrscheinlich nicht existenten Käferart zu beweisen. Seine Schwester Gracie hingegen träumt von einer glamourösen Schauspielkarriere und hat längst mit den engen Grenzen des Landlebens abgeschlossen. So bleiben T.S. in seiner scheinbaren Einsamkeit nur wissenschaftlichen Träumereien. Als er schließlich den berühmten Baird-Award des Smithsonian in Washington D.C. für seine Entdeckung des Perpetuum Mobile gewinnt, lässt er seine egomane Familie zurück und begibt sich auf die weite Reise quer durch die USA zur Preisverleihung. Dabei trifft er nicht nur den ein oder anderen schrulligen Weggefährten, er muss sich auch mit dem Geheimnis um seinen Zwillingsbruder Layton auseinandersetzen, um schließlich den Ort zu finden, an den er gehört.

Die Karte meiner Träume von Jean-Pierre Jeunet (Die fabelhafte Welt der Amelie, Delicatessen) war der diesjährige Eröffnungsfilm des 32. Filmfests München. Bei seiner Deutschland-Premiere durchzog den Saal eine wohlige Mischung aus tiefem Entzücken, leiser Sentimentalität und großer Freude. Jeunets siebter Film weist alle Eigenschaften eines klassischen Roadmovies auf, die Suche nach Freiheit, Identität und einem festen Platz in der Welt. Vor dem Kinopublikum betitelte der Regisseur seinen Film als einen „fake american Movie“, der zwar in Amerika spiele, aber dennoch durch und durch französisch und kanadisch sei. Gerade dieser Mischung aus einem uramerikanischen Genre und einer gewissen französischen Leichtigkeit verdankt Die Karte meiner Träume seine zarte magische Aura.

Der Film besticht so als ein wundervolles, irreales Plädoyer für die Freiheit und die Familie und ist zugleich eine Liebeserklärung an die menschliche Skurrilität. Herausragend ist neben dem jungen Hauptdarsteller insbesondere Judy Davis, die der Kuratorin des Smithsonian in einer herrlichen Verbindung aus Verschrobenheit und Hysterie Leben einhaucht. Aber auch das 3D-Format trägt zum Zauber des Films maßgebend bei. Denn jedes Mal, wenn T.S. in seinem Genie einen Plan für eine neue Erfindung imaginiert, schwebt sie durch den Raum und erscheint so auch dem Zuschauer zum Greifen nahe. Jeunet zeigt so auf charmante Art und Weise, wie nahe sich Wissenschaft und Phantasie doch sein können, wenn man nur wagt, davon zu träumen.

Die Karte meiner Träume (OT: The Young and Prodigious, R: Jean-Pierre Jeunet; FRA/CA 2013, 105Min.)

Am Ende kommt die Wahrheit immer ans Licht: Vanessa Jopps Lügen

Von Saskia Rohrmann

Alles verschweigen oder lieber gleich eine Lüge auftischen – Die Wahrheit wird in Vanessa Jopps Lügen nur selten ausgesprochen. Der Immobilienmakler Carlos (Thomas Heinze) ist mit der selbstbewussten Zahnärztin Coco (Meret Becker) verlobt, und versucht mit wenig Erfolg den finanziellen Engpass zu vertuschen, der seinem ausartenden Junggesellenabschied geschuldet ist. Coco und ihre beste Freundin Patti (Jeanette Hain) könnten zwar unterschiedlicher nicht sein, tragen aber gleichermaßen ihre ganz persönliche Last mit sich herum. Während Patti „nur“ ihre unbefriedigende Affäre zu Yoga-Lehrer Andi (Florian David Fitz) geheim zuhalten versucht, lebt Coco womöglich mit der größeren Lüge. So überprüft sie schließlich die Beziehung zu ihrem Verlobten mit eigenwilligen Mitteln nur um schlussendlich zu erkennen, dass das Problem in der Beziehung sie selbst ist. Auch Cocos Zahnarzthelferin Vera (Alina Levshin) lässt sich von ihrer eigenen Familie, die es nur auf ihr Geld abgesehen hat, täuschen. Zunächst bemerkt Vera den Schwindel nicht und versucht um jeden Preis an Geld zu kommen um ihrem vermeintlich erkrankten Vater zu helfen. Daher nutzt sie das kleine Geheimnis des nach außen so ausgeglichen scheinenden Yoga-Lehrers Andi aus.

So hat in Jopps Lügen jeder sein eigenes Päckchen zu tragen, während sich die einzelnen Storys um die vielfältigen Charaktäre ineinander verweben. Ein charmanter und witziger Thomas Heinze, dem man irgendwie so gar nichts übel nehmen kann und eine herrlich neurotisch aufspielende Meret Becker, mit der sich Frau an der ein oder anderen Stelle zugegebenermaßen hervorragend identifizieren kann, bilden die besonderen Highlights in Lügen.

Wie Hermann Hesse schon sagte, wird „es“ immer ein wenig anders, sobald es ausgesprochen ist. Und genau deshalb überrascht die ausgezeichnet besetzte Liebestragikomödie Lügen mit einem unerwarteten Ende, obgleich man hier und da den Bezug zu einem der vielen Charaktere verliert.

Lügen (R: Vanessa Jopp, D 2014, 93 Min.)

Erik Poppe: A thousand times good night – Die (Ohn)Macht des Bildes

von Victoria Steiner

Poppes Film besticht nicht nur durch seine Hauptdarsteller, sondern auch durch sein ästhetisches Bild. Inszeniert wird das Leben der Kriegsfotografin Rebecca (Juliette Binoche), die ständig zwischen Beruf und Privatleben changieren muss. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach dem Wert des Bildes, aber auch was hinter dem Bild steckt. Um die Idee einer Bildgenese vorzuführen zeigt der Film digitale Fotografien, die zunächst völlig losgelöst von der Welt scheinen, in der sie präsentiert werden; obgleich die Kriegsfotografin Rebecca Entstehungskontext und Bildinformationen kommentiert. Eine Szene jedoch, löst die Distanz zwischen Beruf und Privatleben – ein Kriegsbild aus dem Wüstenland, in dem sie arbeitet, erscheint auf dem Bildschirm ihres ländlichen Familienhaus an der kalten Küste, sprich an dem Ort in dem sie lebt. Der Film setzt also auf die Konfrontation zweier Welten. Das Bild im Bild, die Spannung im Bild gibt dann die Spannungen innerhalb der erzählten Geschichte des Films wider. Der Film visualisiert was er erzählt. Rebecca wird schließlich aus ihrer Bilderwelt gerissen. Eine sehr prägnante Szene zeigt wie sie mit ihrer Tochter konfrontiert wird. Ihre Tochter nimmt die Kamera ihrer Mutter und lichtet sie ab. Erbarmungslos schießt sie Bilder. Immer wieder, immer schneller. Verletzt, als hätte die Fotografin der Schuss einer Waffe getroffen, zieht sie sich aus dem Filmbild zurück. Diese gleichzeitige Ambition des menschlichen Auges, der Reiz und der Schmerz, der mit dem Blick durch eine Linse geschieht, äußert sich in der wiederholten Detailaufnahme eines hektisch bewegten, gereizten, von Emotionen gezeichneten Auges. Als wolle Poppe uns mit A thousand times good night nicht die Geschichte einer Fotografin und ihres Berufs erzählen, sondern eigentlich die Arbeit und Aufgabe der Kamera selbst visualisieren: das ewige Streben nach dem Bild hinter dem Bild, das sonst immer so in Vergessenheit gerät.

Tusen Ganger God Natt (R: Erik Poppe, Nor 2013, 111 Min.)

Gia Coppola: Palo Alto – Portrait einer synthetischen Jugendzeit

von Victoria Steiner

Palo Alto ist ein Film der Akutheit. Es geht um das Präsens, um das, was im Jetzt geschieht. Als Zuschauer ist man sich zwar immer im Klaren darüber, dass es ein Später gibt, nicht zuletzt weil die Zeit im Kino (de)terminiert ist. Doch die Filmfiguren kümmern sich nicht darum, an die Konsequenzen wird nicht gedacht, aber sie werden trotzdem und nicht mal mit einem Murren ertragen. Betrunken Auto zu fahren oder bekifft gegen eine Mauer brettern zum Beispiel. Von der Polizei aufgegriffen zu werden und Sozialstunden in einer Bibliothek (!) abzuarbeiten ist kein Problem. Es passiert einfach. Großen Ärger gibt es nicht. Gia Coppola zeichnet mit ihrem Debütwerk ein Portrait jugendlicher Übertreibung in der kalifornischen Kleinstadt Palo Alto, nach James Frankos gleichnamiger literarischer Vorlage. Der Score von Devanté Hynes und lethargisch angehauchte Tracks wie von Mac DeMarco untermalen ein synthetisches Pastelluniversum, das gelegentlich von der sentimentalen Aufnahme einer Palme unterbrochen wird. Ästhetisch wertvoll erzählt der Filmtext nur eine Passage aus dem Leben dreier Protagonisten. Während die Geschichte nach mehr riecht, als sie dann tatsächlich schmeckt, erschaffen Bild und Ton trotzdem eine Atmosphäre stilisierter Nostalgie, in der man sich an Sofia Coppolas Filme wie The Virgin Suicides (1999) oder Somewhere (2010) erinnert fühlt.

Palo Alto (R: Gia Coppola, USA 2013, 100min.)

Nothing’s gonna stop us – The Skeleton Twins

von Anna-Maria Babin

„LIVE FROM NEW YORK: IT’S SATURDAY NIGHT!!“– Charismatisch und urkomisch begeisterten die Comedy-Stars Bill Hader und Kristen Wiig bis vor Kurzem (2005-2012/13) in der wohl berühmtesten Sketch-Comedy der USA Saturday Night Live. In Deutschland ist diese grandiose Sendung, die seit leider eher unbekannt, sie lief nur für kurze Zeit auf dem Pay-TV-Sender Sat1 Comedy. Daher kennt man die beiden Schauspieler hierzulande kaum. Beim diesjährigen 32. Filmfest München wurde nun ihr erster gemeinsamer Film The Skeleton Twins unter der Regie von Craig Johnson gezeigt, eine sehr düstere Komödie, wie der Regisseur selbst behauptet.

Der Film handelt von dem Zwillingspaar Maggie und Milo, die sich zehn Jahre lang nicht mehr gesehen und völlig auseinander gelebt haben. Beide sind in ihren bisherigen Existenzen gescheitert. Gerade als sich Maggie mit einer Handvoll Pillen das Leben nehmen will, erhält sie von dem Krankenhaus, das ihren Bruder nach seinem eigenen missglückten Suizidversuch aufgenommen hat, einen Anruf. Sie beschließt, ihn bei sich aufzunehmen, um ihre Beziehung zueinander wieder aufzubauen, was nur funktionieren kann, wenn beide ihr Leben wieder in die richtige Ordnung bringen. Dabei ist die Frage, ob Blut immer dicker als Wasser bleibt.

Obwohl der eher unbekannte Johnson ein sehr trauriges Bild Amerikas zeichnet, von Maggies Eingeengtheit in einer trostlosen Kleinstadt-Ehe bis hin zu Milos zerplatztem Traum vom Schauspieler-Dasein, lässt der Film den Rezipienten nicht ohne jede Hoffnung zurück. Erwähnenswert ist dabei auch -trotz einiger Stereotypen- der offene Umgang mit Milos Homosexualität, wie man es sich auch für andere Hollywoodfilme wünschen würde.

Wiigs und Haders Talent für das Komische blitzt trotz der meist depressiven Stimmung in einigen Szenen jäh auf, etwa in einer der vielleicht berührendsten Lipsynching-Szenen der Filmgeschichte zu Starships Nothing’s gonna stop us. Die beiden berühren, bezaubern, bringen zum Lachen und Weinen. Ihre Glaubwürdigkeit ist wohl auch in der innigen Freundschaft begründet, die die beiden seit Jahren verbindet und sich auf der Leinwand klar widerspiegelt. Unterstützt werden sie dabei von Luke Wilson (The Royal Tenenbaums) und Ty Burell (Modern Family).

The Skeleton Twins (R: Craig Johnson, USA 2013, 92 Min.)

Gaudet und Gita Pullapilly : Beneath the Harvest Sky –Vor dem Roadmovie

von Victoria Steiner

Das Ehepaar Gaudet und Pullapilly gibt das etwas verschlissene Bild von Kleinstadtbewohnern an der Grenze zu Kanada. Dort wird eine Freundschaft zwischen zwei paradox geschliffenen Jungs portraitiert, die ihren Roadtrip erst noch organisieren müssen. Beneath the Harvest Sky ist damit ein Film vor dem Film. Er erzählt das, was vor einem Roadmovie passieren kann. Der Film zeigt, was das ,Roadmovie‘ immer schon vorwegnimmt: Eine geheime Vorgeschichte. Das ist es, was der Genrefilm braucht – eine Ergänzung. Der Film beweist, dass selbst die Vorgeschichte einen guten Film abgibt, dass da Einiges passiert, bevor das Eigentliche stattfindet. Der Zuschauer bekommt die Frage, wie es eigentlich dazu gekommen ist, endlich beantwortet.

Ein Junge steigt aus einem Wagen, betritt in ein leerstehendes, heruntergekommenes Haus. Überall Schüsseln, Töpfe und Schalen, um die Regentropfen aufzufangen, die durch das lecke Dach dringen. Am Boden Holz, Teppiche, Staub. Die Kamera macht dann solche Momentaufnahmen, in denen die Handlung kurz anhält. Das Licht, das von Außen durch das Fenster eindringt, macht den sonst unsichtbaren Staub in der Luft sichtbar und schafft eine Atmosphäre, die jeder kennt, aber niemand so einfach beschreiben kann. Das sind Aufnahmen, die einem so lange vorkommen, aber gar nicht unangenehm wirken. Beneath the Harvest Sky erzeugt immer wieder solche atmosphärischen Bilder.Die Kombination aus Handkamera und Close-up skizziert das Jugenddrama in dokumentarischem Stil. Auditiv wird der Film von den Klängen elektronischer Gitarren getragen. Immer wieder drängen sich die solistischen Beats einer solchen Gitarre in den Vordergrund. Und schließlich erschließt sich dem Zuschauer die Musik als der Schlüssel zum Film: sie reflektiert die verwobene Struktur der einzelnen Bilder zu einem einzigartigen Ereignis. Da ist das Intro, der ruhige Anfang, der Alltag die Ruhe vor dem Sturm, die vage Anspielung einer großen Idee und dann kommt die Gitarre in Fahrt, sie beginnt zu improvisieren, es verändert sich etwas, bis zum Chorus, dem Höhepunkt des Songs – das was man nicht vergessen kann. Schließlich klingt alles langsam, das Outro zeigt, was nach dem großen Knall passiert und dann ist es auch schon still. Während man noch den Chorus des alten Songs im Ohr hat, beginnt bereits ein neues Lied. Trotzdem wird man das zuvor gehörte nicht vergessen.

Beneath the Harvest Sky (Aron Gaudet/ Gita Pullapilly, USA 2013, 118min.)

Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne: Zwei Tage, eine Nacht – Eine Neuauflage Dürrenmatts

von Victoria Steiner

Der Film ist ein Bühnenstück, sogar ein bisschen wie bei Dürrenmatt. In Der Besuch der alten Dame (1956) wird den Bewohnern einer Kleinstadt ein Ultimatum gestellt: Den Verflossenen der alten Dame laufen lassen und nichts weiter, oder ihn umbringen und eine Prämie, das Kopfgeld verdienen? Der jüngste Film der Gebrüder Dardenne erzählt eine ähnliche Geschichte. Hier spricht der Firmenchef das Ultimatum aus: Entweder Sandra (Marion Cottilard) verliert ihre Arbeit und die Mitfarbeiter bekommen eine Prämie oder sie darf bleiben und es wird kein finanzieller Bonus ausgezahlt. Die Entscheidung liegt bei den bestochenen Mitarbeitern. Damit steht Sandra kurz vor der erneuten Depression. Ohne Tabletten scheinen die zwei Tage bis zur Abstimmung nicht machbar. Sandra muss Überzeugungsarbeit leisten, die Deadline (dieses Wort bekommt erst in Hinblick auf Dürrenmatt seine grausame Bedeutung) setzt bereits der Titel des Films. Sandra und ihr Mann (Fabrizio Rongione) beginnen eine Art soziodramatischen Roadtrip, um ihre Familie vor dem finanziellen Ruin und Sandra vor der Psychose zu retten. Wir sehen sie Laufen, Busfahren, im Auto von einem schlechten Traum aufwachen. Immer wieder muss sie über Grenzen treten, auch visuell. Einmal trennt sie die Haustür, ein anderes Mal die Mauerecke von ihrem Dialogpartner. Immer wieder sind Figuren durch die Architektur ihrer Umgebung getrennt. Überhaupt ist der Film in der Peripherie angesiedelt, was im Grunde nur Sandras Art der Depression widerspiegelt: Ihre Angst vor dem Existenzverlust, vor dem Vergessen. Die wahre Bedrohung bleibt jedoch die soziale Existenz. Die Gebrüder Dardenne führen uns vor Augen, was es heißt gegen ein Gesellschaftssystem anzukämpfen und zeigen uns welche Konsequenzen eine solche Rebellion mit sich bringt.

Deux Jours, Une Nuit (R: Jean-Pierre Dardenne/ Luc Dardenne, Belg/IT/FR 2014, 96min.)

Die Architektur der Trauer: Las Búsquedas

von Max Bergmann

Geschichten über Trauer kennt das Kino zuhauf, jenes tiefsitzende Gefühl, das oft unvermittelt aufbricht und uns mit den Figuren übermannt. José Luis Valles Las Búsquedas dreht sich um Trauer. Zwei ungleiche Bewohner Mexiko-Stadts haben ihre Ehepartner verloren. Doch hier bricht nichts auf, stattdessen verlagern sich die Emotionen auf die in einem minimalistischen Schwarz-Weiß gedrehte Stadt und die Architektur Mexiko-Stadts wird zur Architektur der Trauer: unmöglich konstruierte, schief herunter hängende Betonbrücken, eine riesige Müllhalde, in der Plastik wie Schnee umherwirbelt, ein undurchdringlicher Lichterwust. Valle lenkt die Aufmerksamkeit subtil von den Personen Richtung Umgebung, die Kameraeinstellungen sind lang und verweilen dazu noch einen Augenblick länger als gewohnt; die leere Wand des Hauseingangs als Spiegel der Innenwelt der Trauernden. Die beiden Protagonisten, beide auf ihre Weise in die titelgebenden Suchen verstrickt, finden sich dann auch genauso zufällig, wie sich ein Rachemotiv einschleicht, durch die Hintertür und nebst moralischem Gepäck. Las Búsquedas wird dadurch zu einem ungemein kraftvollem, in seiner unterkühlten Wucht umso härter treffenderem Ereignis.

Las Búsquedas (R: José Luis Valle, MEX 2013, 77min.)

Verpufftes Potenzial: Uncertain Terms

von Max Bergmann

Die Ausgangssituation klingt eigentlich vielversprechend: Robbie, ein dreißigjähriger New Yorker erwischt seine Frau beim Fremdgehen und flüchtet daraufhin aufs Land, wo seine Tante schwangeren Teenagern ein temporäres Zuhause und eine Ersatzfamilie bietet. Dort untergekommen ergeben sich mit Robbie und den fünf jungen Frauen die unweigerlichen romantischen Problemsituationen, u.a. eine Dreiecksgeschichte mit einer der Bewohnerinnen und ihrem Freund. Dabei wird jedoch schnell klar, dass anstatt einer starken Erzählung nur die altbekannte Formel der Selbstfindung in fremden Gefilden durchgespielt wird. Die Teenager bleiben Nebensache, im Zentrum steht die Krise des Mannes und so ist es auch nicht verwunderlich, dass am Ende die alte Ordnung wiederhergestellt wird und Robbie geläutert zurückkehren kann. Auch kinematographisch weiß der unabhängig finanzierte Film nichts mit seiner Freiheit anzufangen, die wackelige, nahe Handkamera bleibt ein vager, letztlich zu unsicherer Versuch. Leider kann Uncertain Terms sein Potenzial letztlich nicht ausspielen und die reizvolle Idee verpufft in einer schon zu oft gesehenen Geschichte.

Uncertain Terms (R: Nathan Silver, USA 2014, 75min.)

Düster und vielschichtig: Nicolas Cage in Joe

von Max Bergmann

Hat man einmal die erste Skepsis über die Besetzung der Hauptrolle mit Nicolas Cage überwunden, entfaltet sich mit Joe ein vielschichtiger, spannender Film, teils Milieu-, teils Charakterstudie. Es geht um Cages titelgebende Figur Joe, einen Ex-Straftäter, der sein Leben in eine – wenn auch wackelige – Balance gebracht hat. Diese wird jedoch wieder ernsthaft in Gefahr gebracht als er Gary, einen 15-jährigen Jungen, kennenlernt und sich wenig später mit dessen alkoholabhängigen Vater anlegt. Der Film changiert dabei zwischen realistischen Szenen der ländlichen Unterschicht des amerikanischen Südens und dichten, assoziativen Beobachtungen der Charaktere. Regisseur David Gordon Green versteht es dabei meisterlich, das Gefühl einer nicht gezeigten Vorgeschichte zu vermitteln, einer unheimlichen Vergangenheit, die die gegenwärtigen Geschehnisse entscheidend beeinflusst. Gepaart mit großartigen Schauspielerleistungen und düsteren Aufnahmen des texanischen Hinterlands ergibt sich so eine durchaus stimmige Mischung.

Joe (R: David Gordon Green, USA 2013, 117min.)

Eine Ode an die Künste: Clouds of Sils Maria

von Andrea Knezevic

Das Phänomen der alternden Schauspielerin ist vermutlich so alt wie das Schauspiel selbst. Doch schien mit Mankiewiczs All about Eve aus dem Jahr 1950 ein Meilenstein der Filmgeschichte gegeben, an dem sich keiner zu messen wagte. Bis jetzt. Olivier Assayas nimmt das Motiv wieder auf und wandert mit seinem Drama Clouds of Sils Maria, das auf den diesjährigen 67. Filmfestspielen von Cannes uraufgeführt wurde, auf den Spuren von Makiewiczs Klassiker, demonstriert aber großes Potential selbst zum Klassiker zu avancieren.

Am Höhepunkt ihrer Karriere bekommt die französische Schauspielerin Maria Enders (Juliette Binoche) das Angebot, in eben jenem Theaterstück, das ihr vor 20 Jahren zu Weltruhm verhalf, erneut zu spielen. Allerdings soll sie dieses Mal anstatt der jungen Versuchung Siegrid, die Rolle der verführten Helena übernehmen, während Siegrid vom Hollywood-Problemkind Jo-Ann Ellis (Chloe Grace Moretz) verkörpert werden soll. Um sich auf die Rolle vorzubereiten zieht sich Maria mit ihrer Assistentin Valentine (Kristen Stewart) in den kleinen Schweizer Ort Sils Maria zurück. Vor den Kulissen der Schweizer Berge, unter der sanften Wolkenspiel der mystischen ‚Maloja Snake‘ und in Beigleitung Barocker Klänge von Händel bis Pachelbel, entfaltet sich in Rückblende das Leben einer Frau, die sich an an einem Scheideweg befindet und dagegen ankämpft, von ihrer Vergangenheit eingeholt zu werden.

Nach Irma Vep (1996) beschäftigt sich Assayas erneut mit der Grenze zwischen Realität und Fiktion. Auch Clouds of Sils Maria kann als eine Meta-Fiktion gelten, stellt er doch eine eindeutige Grenzziehung in Frage, was Assayas auch seine Charaktere wissen lässt: „It’s theater. It’s an interpretation of life. It can be truer than life itself.“

Aber nicht nur die komplex angelegte Story verdient gebührendes Lob, auch die unglaubliche Dynamik zwischen den beiden Hauptdarstellerinnen. Binoches Eleganz sowie ihr Charme stehen Stewarts jugendlichem Weltblick entgegen, was zu herzlich belustigenden Details führt. Assayas schrieb die Rolle der Maria Enders eigens für Binoche, der es durchweg gelingt, das Selbstbewusstsein einer etablierten Schauspielerin mit der Zerbrechlichkeit einer mit sich selbst ringenden Frau zusammenzufügen. Erstmalig glänzt auch Kirsten Stewart, die zeigt, dass es nur am richtigen Drehbuch mangelte, um ihr Talent unter Beweis zu stellen.

Assayas behandelt mit Clouds of Sils Maria ein delikates Thema, welches sich leicht in einem Psycho-Thriller verhandeln ließe. Doch im Gegensatz zum eher experimentell angelegtem Irma Vep entscheidet sich Assayas für einen natürlichen Erzählstil; mehr als einem Dramas entspricht Clouds of Sils Maria einerArt Lebensgeschichte: stilvoll, charmant und mit meinem Hauch von Humor; Clouds of Sils Maria ist eine wahre Ode an die Künste, hinter der sich eine subtile Hollywood-Kritik verbirgt. Sehenswert.

Sils Maria (R: Olivier Assayas, FR/CH/D 2014, 123min.)

Sehnsucht nach Normalität: Christina Schiewes Be My Baby

von Sina Lenz

Es gibt sie wie Sand am Meer: Teenie-Filme. Alle verlaufen nach dem gleichen Muster: Einer der Protagonisten verliebt sich in eine ungleiche andersgeschlechtliche Person und am Ende kriegen sie sich. Eigentlich passt auch Be My Baby (2014) von Christina Schiewe in diese Reihe, wenn es denn um zwei ganz normale Jugendliche gehen würde. Nicole (Carina Kühne) ist 18 Jahre alt und hat das Down-Syndrom. Nick (Florian Appelius) kennt Nicole noch aus Sandkastenzeiten und hat im Gegensatz zu seinen spießigen Eltern Nicole gerne. Aber als 18-jähriger Heranwachsender ist es einfach nicht „cool“ eine Freundin mit Trisomie-21 zu haben. Doch wie jeder andere wird auch Nicole erwachsen und plötzlich stehen Fragen nach Mündigkeit und Sexualität im Vordergrund. Zudem möchte sie unbedingt Mutter werden. Nicoles naive Art bringt eine neue Sicht der Dinge ins Spiel und zeigt, wie kompliziert wir Normalos uns die Welt doch manchmal machen. Mit einer gehörigen Packung Humor und Ehrlichkeit zeigt der Film die alltäglichen Schwierigkeiten und Hindernisse für alle Beteiligten der Trisomie-21. Eine wunderschön nachdenkliche Geschichte, die Lust auf das Leben bereitet.

Be My Baby (R: Christina Schiewe, D 2014, 109 Min.)

Vom Kämpfen und Verlieren – Next Goal Wins

von Sina Lenz

Endlich: Die deutsche Nationalmannschaft ist Fußball-Weltmeister. Damit ist Deutschland auf den ersten Platz der offiziellen FIFA/Coca-Cola-Weltrangliste gerückt. Doch wie sieht es eigentlich am Ende dieser berühmt berüchtigten Rangliste aus? Diese Frage haben sich auch die beiden britischen Regisseure Mike Brett und Steve Jamison in ihrem Debüt-Dokumentarfilm Next Goal Wins (2014) gestellt. Die Antwort fanden sie in Amerikanisch-Samoa, einer kleinen Insel im südlichen Pazifik. Die Fußballnationalmannschaft von Amerikanisch-Samoa erlangte einst Weltruhm, als sie 2001 gegen Australien mit 31:0 verlor. Diese Niederlage sitzt bis heute tief. Mit der Unterstützung eines professionellen Coachs aus den Niederlanden, Thomas Rongen, startete die Elf aus Amerikanisch-Samoa in die emotionalen Qualifikationsspiele zur Fußballweltmeisterschaft 2014. Mit einem sehr niedrigen Fußballstandard, dafür mit Unterstützung des gleichen Torwarts, der 2001 die 31 Tore kassierte, und eines Mitglieds des samoanischen dritten Geschlechts, Fa’Fafine, der rund um die Uhr als Frau lebt. Hier scheint es egal, welcher Religion, Herkunft oder Sexualität man angehört, solange alle an einem Strang ziehen. Eine packende und emotionale Dokumentation, ein Fußballfest, über Zusammenhalt und Durchsetzungskraft, die kein Drehbuchautor schöner hätte schreiben können.

Next Goal Wins (R: Mike Brett/ Steve Jamison, UK 2014, 93 Min.)

Ein unbewusster Rückblick: Florian Gottschicks Nachthelle

von Sina Lenz

Wer bin ich und woher komme ich eigentlich? Die Frage nach der eigenen Identität stellt sich oft im Leben und nur zu gerne ist sie das zentrale Thema in Erzählungen. Dabei stößt man immer wieder auf unbewusste Abgründe und vergrabene Schicksalsschläge. Doch ganz so einfach macht es uns Florian Gottschick in seinem Spielfilm Nachthelle (2013) nicht. Eine augenscheinliche Idylle bietet nach und nach mysteriöse Szenerien und rätselhafte Figuren, die durch Freud-Zitate einen psychologischen Kontext erahnen lassen. Der wummernde, sich nähernde Kohletagebau, der auch den Grund für die bevorstehende Zerstörung der Idylle darstellt, bietet einen Rahmen für ein kleines Freud-Karussell.

Anna (Anna Grisebach) verbringt mit ihrem Freund Stefan (Vladimir Burlakov) und ihrem Ex-Freund Bernd (Benno Führmann) samt dessen Partner und Psychologen Marc (Kai Ivo Baulitz) ein letztes Wochenende in ihrer Heimat. Denn bald wird der nahende Kohleabbau das gesamte Dorf vernichtet haben. Alte Erinnerungen werden ans Tageslicht befördert und auch dem unwissenden Stefan wird bewusst, dass neben einem seltsamen Todesfall noch einiges mehr in der Vergangenheit seiner Freundin vergraben liegt. Ein freudsches Psychodrama, dass den Zuschauer jedoch selbst auf die Suche schickt: Was ist eigentlich passiert?

Nachthelle (R: Florian Gottschick, D 2014, 85 Min.)

Gergiev – A certain (lack of) madness

von Andrea Knezevic

Eine Symphonie auf das Papier zu bringen ist schwierig. Ein Stückchen Wahnsinn eines Valery Gergiev in 85 Minuten zu packen, umso schwieriger. Dieser Herausforderung hat sich der Schweizer Fotograf und Regisseur Alberto Venzago in seinem vierten Dokumentarfilm Gergiev – a certain Madness gestellt. Mit dem Auftrag, die Hochkultur auch in entfernte Winkel Russlands zu bringen, erleben Gergiev und sein 115-köpfiges Ensemble des historischen Mariinski-Theaters jedes Jahr zu Ostern ein drei Wochen langes Abenteuer. Mit der Transsibirischen Eisenbahn durchquert die Gruppe tatsächlich zwar nur einen Bruchteil des Landes, jedoch sind es am Ende die Leidenschaft, der Wille und das Bedürfnis, das gewaltige Land durch Musik zusammenzuführen, die zählen.

Untermalt mit bekannten Melodien russischer Legenden, vom wuchtigen Prokofjew bis zum leidenden Tschaikowskij, strickt Venzango seinen Film aus Schwarz-Weiß-Bildern der Geschehnisse aus dem Zug, Anekdoten über Gergiev, erzählt von seiner Truppe, wie auch aus Interviewausschnitten mit dem Meister selbst. Obgleich Venzago seinem Publikum gegen Ende des Films ein paar Blicke auf Wolgograd, untermalt durch Aussagen eines Stahlwerkarbeiters, beschert, hinterlassen die fehlenden Bilder eines in Vergessenheit geratenen Russlands, das doch Anlass der Reise war, ein Gefühl von Enttäuschung beim Zuschauer. Überraschend muss unter diesem Gesichtspunkt auch die fast schon stereotyp anmutende Nostalgie erscheinen, mit der Venzango diese wenigen Bilder von Russland gestaltet.

Starke politische Polarisierungen, ohne die die Auftrritte Gergievs geradezu undenkbar geworden sind, bleiben in Venzagos Portrait völlig aus. Venzago zeigt Gergiev zwar als einen leidenschaftlichen Mann, für den Musik eine Sache von Leben und Tod ist, eine tiefergehende, eventuell auch widerständigere Auseinandersetzung sucht der Zuschauer jedoch vergeblich. Die wiederholten Großaufnahmen von Gergiev offenbaren die stilistische Verlegenhheit eines Filmemachers, der nur 30 Minuten für ein Interview mit dem Meister zur Verfügung hatte.

Russland, die Transsibirische Eisenbahn und Gergiev; drei Mythen, die perfekt miteinander hätten funktionieren können. Doch leider hat sich Venzango nicht wirklich von seiner ersten Leidenschaft, der Fotografie, emanzipiert. Was daher übrig bleibt, ist ein kleines, fast schon experimentelles Road-Movie über einen lebenden Giganten der klassischen Musik. Ab Oktober 2015 wird Gergiev Chefdirigent der Münchner Philharmonie. Man darf auf mehr kreativen Wahnsinn gespannt sein, als in Venzagos Film zu sehen ist.

Gergiev: A Certain Madness (R: Alberto Venzago, CH 2013, 85min.)

 

 

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Foto: Bernhard Schmidt (Filmfest München)
Foto: Bernhard Schmidt (Filmfest München)

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