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„Ich habe geweint wie ein Baby“

Wenn Anatolij Sawitschew über Bayern spricht, lächelt er. Überhaupt liebe er Deutschland, erzählt er, und am meisten gefalle ihm Bayern. Hier habe er mittlerweile viele Freunde. Wenn er nach Deutschland kommt, gibt es ein großes Wiedersehen. Im Frühjahr 2011 ist er zum dritten Mal zu Besuch. Hier verbringt er Zeit in der Natur, geht ins Museum, kauft Kleidung. Im Sommer wird Sawitschew 84 Jahre alt.

 

Beatrice Holl / Pixelio.de

Als ihn 1942 in seinem ukrainischen Heimatort deutsche Soldaten von der Straße aufgriffen und er zur Zwangsarbeit nach Pullach gebracht wurde, war er gerade mal 15. Auf Pullach folgte die Gefangenschaft im Konzentrationslager Dachau. Später kam Mauthausen in Österreich. In den Lagern wurde der Jugendliche damals misshandelt, gedemütigt, bis an die Grenzen seiner Kraft getrieben. Aber einen Groll gegen die Deutschen? Den hat er schon längst nicht mehr.

Sawitschew ist einer der Überlebenden des KZ Dachau, die in diesem Jahr aus der ehemaligen Sowjetunion zu den Befreiungsfeierlichkeiten nach Deutschland gekommen sind. Seit 1992 werden jährlich ehemalige KZ-Häftlinge vom Förderverein für Internationale Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit in Dachau e. V. eingeladen. Sie werden im Jugendgästehaus untergebracht. Geboten wird ihnen ein vielfältiges Unternehmungsprogramm. Dieses Jahr sind acht gekommen – sechs aus der Ukraine, jeweils einer aus Weißrussland und Russland. Ihr Alter liegt zwischen 83 und 88 Jahren, bei bester Gesundheit sind die Männer nicht. Und doch finden jedes Jahr einige von ihnen aufs Neue die Kraft, die Reise anzutreten. In dasselbe Deutschland, das ihnen ihre besten Jugendjahre weggenommen hat, ihr ganzes Leben geprägt hat. Dasselbe? „Ich erlebe jetzt ein anderes Deutschland. Ich finde Angela Merkel toll. Ich weiß, hier wird sie viel kritisiert, aber ich verstehe nicht, warum – in diesem Land herrscht Demokratie, das ist Hauptsache“, erzählt der Ukrainer Musij Galajko. Trotz seiner traumatischen Erlebnisse in den Konzentrationslagern studierte Galaijko nach dem Krieg Fremdsprachen und arbeitete 40 Jahre lang als Deutschlehrer.

 

„Papa kann nicht schlafen. Er war doch in Dachau.“

 

(c) Förderverein Dachau

Als Außenstehender fällt es einem schwer, die Offenherzigkeit und Versöhnlichkeit der alten Männer nachzuvollziehen. Ist es die Zeit, die die Wunden geheilt hat? Das Alter? Die Begegnungen mit den „neuen“ Deutschen, die die Vergangenheit zur Geschichte werden lassen? Vergessen hat jedenfalls keiner von ihnen. Verdrängen könne man solche Erlebnisse nicht, diese Meinung teilen wohl alle Überlebenden. Als er vor einigen Jahren zum ersten Mal nach Kriegsende nach Mauthausen gekommen sei, habe er geweint wie ein Baby, berichtet Sawitschew. Galajko konnte jahrzehntelang nachts nicht schlafen, seine Erlebnisse haben ihn verfolgt. „Das war als Kind meine erste Begegnung mit dem Begriff ‚Dachau’“, erzählt Galajkos Sohn, der 2007 zusammen mit seinem Vater zum ersten Mal nach Dachau kam. „Immer wenn ich nachts aufgewacht bin und die schweren Schritte meines Vaters in der Wohnung hörte, sagte meine Mutter: Papa kann nicht schlafen. Er war doch in Dachau.“

Doch in der Sowjetunion interessierte sich lange Zeit kaum jemand für die Schrecken, die ehemaligen KZ-Häftlingen widerfahren waren. Bis zum Zerfall des kommunistischen Regimes galten sie als Kollaborateure der Deutschen, als Verräter des Vaterlandes. Obwohl Männer wie Sawitschew und Galajko heutzutage offiziell als „Opfer“ anerkannt sind, ist die Vergangenheitsbewältigung in ihrer Heimat ein zäher Prozess. Gerade deshalb ist die intensive Vergangenheitsbewältigung in Deutschland für die Überlebenden etwas Besonderes – im positiven Sinne.

„Als die ersten ehemaligen Häftlinge hierher kamen, haben sie nicht verstanden, wieso wir ihnen so viele Fragen zu ihrer Vergangenheit stellen – sie empfanden diese Fragerei als Verhör, so wie sie es früher von der Gestapo kannten. Erst mit der Zeit haben sie verstanden, dass sich die Menschen hier tatsächlich dafür interessieren, was ihnen hier widerfahren ist“, erzählt Nicole Schneider vom Förderverein in Dachau.

Hinzu kommt, dass die Überlebenden die deutsche Bevölkerung zur NS-Zeit in einer fast naiven Weise rechtfertigen. Immer wieder werden Stimmen laut: „die Menschen konnten doch nichts dafür, das war doch alles Hitler“ – so viel Nachsicht haben weder Historiker noch die deutsche Bevölkerung mit sich selbst.

Die Frage ist: Was bedeuten diese versöhnlichen Gesten der alten Männer für uns, „die Deutschen?“ Können wir uns nun beruhigt auf die Schulter klopfen und sagen: „Na also, sogar die Opfer haben verziehen. Genug mit diesem exzessiven Trend der Vergangenheitsbewältigung!“ Oder ist es vielmehr ein Zeichen, dass eben dieser Prozess der einzige Weg ist, Frieden mit der Vergangenheit zu schließen? Wenn Musij Galajko heute in Dachau ist, plagen ihn keine Alpträume mehr, er schläft tief und fest. Jedes Jahr freut er sich über eine Einladung von seinen deutschen Freunden – Menschen, die darum kämpfen, Erinnerung am Leben zu halten.

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